Der seltsame Zerfall der Kaonen
Forscher finden weiteren Hinweis auf Abweichungen vom Standardmodell.
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Bausteine, aus denen die Welt zusammengesetzt ist. Außerdem erklärt das Modell, welche Kräfte zwischen diesen Elementarteilchen wirken. „Es gibt allerdings auch Fragen, die diese Theorie nicht beantworten kann“, erklärt Chien-Yeah Seng von der Uni Bonn. „So gehen die meisten Forscher davon aus, dass 95 Prozent des Universums aus dunkler Materie und dunkler Energie bestehen, die wir mit unseren Messinstrumenten nicht direkt nachweisen können. Aus dem Standardmodell lässt sich die Existenz dieser mysteriösen Komponenten aber nicht herleiten.“ Viele Forscher gehen daher davon aus, dass das Standardmodell ergänzt oder sogar grundlegend verändert werden muss. In diese Richtung deuten auch immer mehr experimentelle Befunde, etwa die zum Zerfall der Kaonen. Diese Teilchen sind ein Bestandteil der kosmischen Strahlung, die von Sternen und Galaxien ausgeht. Sie sind nicht stabil, sondern zerfallen im Schnitt nach wenigen Milliardstel Sekunden.
Ein Parameter des Standardmodells beschreibt diesen Zerfall. Sein Wert lässt sich aus den Messdaten von Experimenten rechnerisch extrahieren. Wenn man das jedoch für verschiedene Zerfallswege von Kaonen macht, so erhält man unterschiedliche Ergebnisse. „Das könnte ein Hinweis von Physik jenseits des Standardmodells sein“, so Seng. Ganz sicher ist es aber nicht. Denn grundsätzlich gibt es drei mögliche Gründe für diese Diskrepanz.
Ersten können die Messungen in den Experimenten falsch oder zu ungenau sein. Zweitens ist vielleicht die Berechnung der relevanten Zerfälle im Rahmen des Standardmodells nicht präzise genug. Oder, drittens, das Standardmodell ist an diesem Punkt tatsächlich unzutreffend. „Die erste Erklärung gilt inzwischen als unwahrscheinlich“, betont Ulf Meißner von der Uni Bonn. „Zum einen ist es heute immer exakter möglich, den Parameter experimentell zu bestimmen. Zum anderen wurden diese Messungen inzwischen schon viele Male wiederholt.“
Unklar ist bislang aber noch, ob die Berechnungen der Zerfälle im Rahmen des Standardmodells präzise genug sind. Denn das ist nur näherungsweise möglich und auch nur unter Einsatz extrem leistungsfähiger Supercomputer. Selbst die schnellsten Rechner wären momentan zudem Jahrzehnte beschäftigt, um eine genügend hohe Rechengenauigkeit zu erzielen. „Wir benötigen aber eine hohe Genauigkeit, um ausreichend sicher sein zu können, dass die Diskrepanz zwischen den Werten tatsächlich auf einen Fehler im Standardmodell hindeutet“, betont Seng.
Der Nachwuchswissenschaftler hat nun zusammen mit Kollegen eine Methode entwickelt, durch die sich die Rechenzeit entscheidend verkürzen lässt. „Dazu haben wir das Problem in viele einfachere Teilprobleme zerlegt“, sagt er. „Dadurch war es möglich, den Wert des Parameters erheblich schneller und exakter als bislang aus Kaon-Zerfällen zu bestimmen.“
Die Ergebnisse bestätigen die Diskrepanz zwischen den Werten. Die Hinweise auf eine neue Physik jenseits des Standardmodells haben sich also verdichtet. „Ganz sicher können wir allerdings noch nicht sein“, sagt Seng. „Dazu müssen unsere Berechnungen noch etwas genauer werden. Wenn sich unsere Ergebnisse aber bestätigen, wäre das sicher einer der wichtigsten Befunde der letzten Jahre in der Teilchenphysik.“
U. Bonn / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
C.-Y. Seng et al.: High-precision determination of the Ke3 radiative corrections, Phys. Lett. B 820, 136522 (2021); DOI: 10.1016/j.physletb.2021.136522 - QCD, Hadronenphysik, effektive Feldtheorien, Symmetrien (C. U.-G. Meißner), Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik, Universität Bonn