Die Grenzen der Haftung
Haftreibung zwischen Oberflächen kann völlig verschwinden.
Wenn Oberflächen übereinander gleiten, entsteht Reibung. Diese Gleitreibung ist ein lästiger, aber unumgänglicher Aspekt von Bewegungsvorgängen. Um jedoch einen ruhenden Gegenstand in Bewegung zu versetzen, muss zunächst die Haftreibung überwunden werden. Forscher der Uni Konstanz haben jetzt in einer Kollaboration mit Kollegen aus Italien gezeigt, wie sich die Haftreibung zwischen zwei Oberflächen vollständig unterdrücken lässt. Damit lassen sich Objekte mit einer winzigen Kraft in Bewegung setzen. Gerade bei mikromechanischen Bauteilen, wo häufig nur kleine Kräfte im Spiel sind, kann eine verschwindende Haftreibung zu einem deutlich verbesserten Wirkungsgrad führen.
Abb.: Gleitet eine Monolage eines Kolloidkristalls (blaue Kugeln) über ein Lichtgitter (orange), so kann die Reibung vollständig verschwinden. Das wird dadurch erreicht, dass die Teilchen bevorzugt die Mulden des Lichtgitters vermeiden und sich stattdessen entlang der Bergrücken bewegen. (Bild: T. Brazda, U. Konstanz)
Clemens Bechinger und seine Kollegen bestätigten mit Experimenten und numerischen Simulationen eine Vorhersage, die der Physiker Serge Aubry in den 1980er Jahren gemacht hat: Wenn der Gitterabstand der Teilchen in den beiden Oberflächen leicht unterschiedlich ist, sollte die Reibung zwischen den Oberflächen vollständig verschwinden. Dies gilt auch dann, wenn die beiden Oberflächen aufeinander gedrückt werden.
Der Effekt lässt sich besonders gut an idealen Kontakten beobachten, bei denen die beiden Oberflächen plan aufeinander liegen. Genau solche Oberflächen hat Bechinger mit seinen Mitarbeitern in einem Modellsystem realisiert: Sein Team hat aus Laserlicht und mikrometergroßen Kolloiden ein zweidimensionales Modell für zwei aufeinander reibende Oberflächen geschaffen. Da sich die Kügelchen elektrisch abstoßen, ordnen sie sich in einer periodisch geordneten ebenen Schicht an. Diese kolloidale Monolage bildet die eine Oberfläche. Die andere Oberfläche erzeugten die Forscher unter der Schicht der Kügelchen mit drei intensiven Laserstrahlen. Durch deren Überlagerung bildet sich ein Lichtkristall. „Im Vergleich mit einer realen Oberfläche haben diese optischen Oberflächen den Vorteil, dass diese völlig transparent ist und sich daher die Vorgänge zwischen den beiden Flächen direkt beobachten lassen“, sagt Team-
Während Aubry seine Vorhersage aber nur für einen eindimensionalen Kontakt und am absoluten thermischen Nullpunkt machte, gelang den Forschern jetzt der Beweis, dass auch ein zweidimensional ausgedehntes System bei Raumtemperaturen reibungsfrei in Bewegung versetzt werden kann. „Mit dem Experiment konnten wir die künstliche eindimensionale Situation auf eine durchaus realistische Situation übertragen und zeigen, dass die Idee von Aubry auch in einem zweidimensionalen System und bei endlichen Temperaturen gültig bleibt“, so Bechinger.
Durch die direkte Beobachtung der Teilchenbewegung lässt sich auch das Ausbleiben der Haftreibung der kolloidale Monolage auf dem Lichtkristall verstehen: Die Forscher konnten beobachten, dass sich der Kristall leicht gegenüber dem Lichtgitter verdreht. Dadurch vermeiden es die Teilchen, in die Mulden des Substrats einzurasten, aus denen sie nur schwer wieder herauskommen würden. Stattdessen ordnen sich einige nahe den Bergkuppen an. Wird eine äußere Kraft angelegt, so müssen sich diese Teilchen daher nicht erst aus den Potenzialmulden befreien, sondern können sich sofort bewegen, sobald eine minimale Kraft auf sie einwirkt. Damit verschwindet die Haftreibung.
Die experimentellen Ergebnisse, die in ausgezeichneter Übereinstimmung mit numerischen Simulationen sind, zeigen, dass sich die Haftreibung nicht nur ausschalten, sondern auch gezielt wieder anschalten lässt, wenn der Anpressdruck zwischen den beiden Oberflächen erhöht wird. Das ist wichtig, da Haftreibung – im Gegensatz zur Gleitreibung – häufig durchaus wünschenswert ist. Sie ermöglicht es beispielsweise, einen Gegenstand sicher zu greifen, und sie sorgt für die Traktion von Rädern auf Oberflächen. Mit der nun gezeigten Möglichkeit, die Haftreibung zu variieren, ergeben sich neue Möglichkeiten, Gegenstände leicht über Oberflächen zu verschieben und diese anschließend wieder fest zu verankern. Das wäre zum Beispiel für die Funktion mikro- und nanomechanischer Getriebe oder Kuppungen von großem Vorteil, da hier typischerweise nur sehr kleine Kräfte im Spiel sind.
U. Konstanz / RK