22.06.2020

Die Physik der Zwei-Klassen-Gesellschaft

Laut spieltheoretischer Studie kann Neid gepaart mit Wettbewerb eine Gesellschaft in eine obere und eine untere Klasse trennen.

Können Klassenunterschiede endogen entstehen, also unabhängig von Geburt und Bildung? Dieser Frage ist Claudius Gros vom Institut für theoretische Physik der Goethe-Universität in einer spiel­theoretischen Studie nach­gegangen. Dabei konnte er zeigen, dass das urmenschliche Bedürfnis, sich mit anderen zu vergleichen, der ursächliche Grund für die Herausbildung sozialer Schichten sein kann.
 

Abb.: Selbst­induzierte Klassen­trennung im spiel­theoretischen Modell...
Abb.: Selbst­induzierte Klassen­trennung im spiel­theoretischen Modell (Bild: C. Gros / Royal Soc.)

Es ist allgemein anerkannt, dass Unterschiede in Herkunft und Bildung Klassen­unterschiede zementieren. Weniger klar ist hingegen, wann und unter welchen Umständen individual­psychologische Kräfte eine anfänglich homogene soziale Gruppe auseinander treiben und schluss­endlich aufspalten können. Claudius Gros, Professor für Theoretische Physik an der Goethe-Universität, hat diese Frage­stellung mit spiel­theoretischen Methoden mathematisch-präzise untersucht. „Dabei werden Gesell­schaften von Agenten – also handelnden Individuen – simuliert, die ihren eigenen Erfolg nach vorgegebenen Regeln individuell optimieren. Ich wollte in erster Linie herausfinden, ob sich soziale Unterschiede selbstständig auch dann herausbilden, wenn niemand von vornherein im Vorteil ist, das heißt, wenn alle handelnden Personen über die gleichen Fähigkeiten und Möglichkeiten verfügen“, erklärt der Physiker.

Die Untersuchung basiert auf der Annahme, dass es in jeder Gesellschaft Dinge gibt, die begehrt, aber knapp sind – Arbeitsplätze etwa, soziale Kontakte und Macht­positionen. Wenn die Topstelle schon vergeben ist und man deshalb den zweitbesten Job annehmen muss, dann führt das zu Ungleich­heiten – jedoch noch nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft. Mit Hilfe mathematischer Berechnungen konnte Gros nun zeigen, dass Neid, der dem Bedürfnis entspringt, sich mit anderen zu vergleichen, das individuelle Verhalten und damit die Strategien der Agenten charakteristisch verändert. Als Folge des veränderten Verhaltens entstehen dann zwei strikt voneinander getrennte soziale Klassen.

Die Spieltheorie stellt für die Studie von Gros die mathematischen Werkzeuge zur Verfügung, die notwendig sind, um Entscheidungs­situationen mit mehreren Beteiligten zu modellieren. Besonders aufschluss­reich sind im Allgemeinen Konstellationen, bei denen sich die Entscheidungs­strategien der einzelnen Akteure wechselseitig beeinflussen. Der Erfolg des Einzelnen hängt dann nicht nur vom eigenen Handeln, sondern auch von dem anderer ab, was typisch sowohl für den ökonomischen wie für den sozialen Kontext ist. Die Spieltheorie ist daher fest in der Ökonomie verankert. Der stabile Zustand wird durch das „Nash-Gleichgewicht“ beschrieben, ein Konzept, das John Forbes Nash 1950 in seiner Dissertation am Beispiel von Poker­spielern entwickelt hat. Es besagt, dass es im Gleich­gewicht für keinen Spieler vorteilhaft ist, seine Strategie zu ändern, wenn die anderen Spieler ihre Strategien beibehalten. Nur, wenn es sich potentiell auszahlt, probiert das Individuum neue Verhaltens­muster aus. Da diese Ursachen­kette auch für evolutionäre Prozesse zutrifft, greifen auch die Evolutions- und Verhaltens­wissenschaften regelmäßig auf spieltheoretische Modelle zurück, zum Beispiel bei der Erforschung von tierischen Verhaltens­weisen, wie der Wahl der Vogel­flug­routen oder dem Kampf um Nistplätze.

Auch in einer neidinduzierten Klassen­gesellschaft lohnt es sich für den Einzelnen nicht, seine Strategie zu ändern, so Gros, sie ist also Nash-stabil. In der gespaltenen Neid­gesellschaft gibt es einen markanten Einkommens­unterschied zwischen der oberen und der unteren Klasse, der für alle Mitglieder der jeweiligen sozialen Schicht derselbe ist. Typisch für die Mitglieder der unteren Klasse ist nach Gros, dass sie ihre Zeit auf eine Reihe unterschiedlicher Tätigkeiten verteilten, was man spiel­theoretisch als eine „gemischte Strategie“ bezeichnet. Mitglieder der oberen Klasse konzentrierten sich indes auf eine einzige Aufgabe, sie verfolgen also eine „reine Strategie“. Auffallend ist auch, dass die obere Klasse zwischen unter­schiedlichen Optionen wählen kann, während der unteren Klasse nur eine einzige gemischte Strategie zur Verfügung steht. „Die obere Klasse ist daher individualistisch, während Agenten in der unteren Klasse sozusagen in der Masse aufgehen“, resümiert der Physiker.

Im Modell von Claudius Gros ist es Zufall, ob ein Agent am Ende in der oberen oder in der unteren Klasse landet. Nicht die Herkunft entscheidet, sondern die Wettbewerbs­dynamik. Für seine Studie hat Gros ein neues spiel­theoretisches Modell entwickelt, das „Shopping Trouble Modell“, und eine exakte analytische Lösung ausgearbeitet. Daraus leitet er ab, dass eine neid­induzierte Klassen­gesellschaft Eigenschaften hat, die in der Theorie komplexer Systeme als universell bezeichnet werden. Die Folge ist, dass sich die Klassen­gesellschaft bis zu einem gewissen Grad der politischen Kontrolle entzieht. Politische Entscheidungs­träger verlieren einen Teil ihrer Kontroll­möglichkeiten, wenn sich die Gesellschaft spontan in soziale Schichten aufteilt. Zudem zeigt Gros‘ Modell, dass sich Neid umso stärker auswirkt, je stärker der Wettbewerb um begrenzte Ressourcen ist. „Diese spiel­theoretischen Erkenntnisse könnten für die heutigen Gesellschaften von zentraler Bedeutung sein. Selbst eine ‚ideale Gesellschaft‘ ist dauerhaft nicht stabil zu halten – was letztlich auch das Streben nach einer kommunistischen Gesellschaft unrealistisch erscheinen lässt“, sagt der Wissenschaftler.

U. Frankfurt / DE
 

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