05.04.2007

Dynamik sozialer Gruppen

Wie entwickeln sich soziale Beziehungen in Gemeinschaften? Und welchen Einfluss hat das auf die Langlebigkeit von Cliquen und Organisationen?



Wie entwickeln sich soziale Beziehungen in Gemeinschaften? Und welchen Einfluss hat das auf die Langlebigkeit von Cliquen und Organisationen?

Menschen sind soziale Wesen, eingebunden in zahlreiche Beziehungen zu ihren Mitmenschen, z. B. über Familie, Beruf, Hobbys, Freundschaften oder Konsum. Das Netz all dieser Beziehungen ist weltumspannend und wandelt sich unaufhörlich. Doch selbst in überschaubaren Gemeinschaften erreicht das Beziehungsgeflecht eine enorme Komplexität, die besonders die Physiker herausfordert. Sie sind es gewohnt, die in komplexen Vielteilchensystemen verborgenen Zusammenhänge aufzuspüren. Jetzt haben ungarische Physiker herausgefunden, wie sich in Gemeinschaften die sozialen Beziehungen entwickeln und welchen Einfluss das auf die Langlebigkeit von kleinen Cliquen und großen Organisationen hat.

Gergely Palla von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest und seine Kollegen haben zwei Personengruppen untersucht, für die die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern besonders gut dokumentiert sind. Zum einen nahmen sie die rund 30.000 wissenschaftlichen Autoren von Preprints auf dem Cond-Mat-Server. Zwischen je zwei Autoren besteht dann eine Beziehung, wenn sie mindestens eine Arbeit gemeinsam veröffentlicht haben. Die zweite Personengruppe waren 4 Millionen Mobiltelefonkunden einer Telefongesellschaft, deren Verbindungen über 52 Wochen protokolliert worden waren. In diesem Fall wurde eine Beziehung zwischen zwei Personen durch ein Telefonat hergestellt.

Für beide Gruppen konstruierten die Forscher ein Netz, in dem die Knoten den Autoren bzw. Telefonkunden entsprachen und die Verbindungslinien jeweils für die Beziehung zwischen zwei Personen standen. Die beiden Netze hatten unterschiedliche lokale Struktur. Das Autorennetz war sehr engmaschig, da viele Autoren gleichzeitig zu verschiednen wissenschaftlichen Communities gehören können. Diese Personengemeinschaften, die als stark vernetze Cluster von Knotenpunkten erschienen, überlappten sich deshalb. Das Telefonkundennetz war hingegen wesentlich weitmaschiger. Hier hingen verschiedene Communities oft nur über eine oder zwei Personen miteinander zusammen.

Um in den beiden Netzen die Communities aufzuspüren und ihre Entwicklung verfolgen zu können, benutzten Gergely Palla und seine Kollegen die von ihnen entwickelte „Cliquen-Perkolationsmethode“. Eine „n-Clique“ ist eine Gruppe von n Personen, die alle miteinander in Beziehung stehen. Bei den Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Dreier-Cliquen besonders wichtig für den Zusammenhalt von Gemeinschaften sind. Bei der Cliquen-Perkolation versucht man, sich z. B. über Dreier-Cliquen durch das Netz zu bewegen. Ausgehend von einer Dreier-Clique wählt man eine vierte Person, die mit zweien der Drei eine neue Dreier-Clique bildet. Auf diese Weise kann man jeweils eine ganze Community ausloten.

Die Forscher verfolgten, wie sich im Autoren- und im Telefonkundennetz die Communities entwickelten. Dabei zeigten beide Netze, trotz ihrer unterschiedlichen Struktur, überraschende Ähnlichkeiten. Offensichtlich können Gemeinschaften wachsen, schrumpfen, verschmelzen, sich aufteilen, neu entstehen oder verschwinden. In beiden Netzen hatte eine Community umso länger Bestand, je größer sie war. Sehr kleine Communities oder Cliquen lebten länger, wenn sich die Zusammensetzung ihrer Mitglieder so wenig wie möglich änderte. Bei großen Gemeinschaften war es genau anders herum: Sie waren langlebiger, wenn bei ihren Mitgliedern ein reges Kommen und Gehen war. Dieser Zusammenhang zwischen Größe, „Volatilität“ und Lebensdauer einer Community galt für das Autoren- und das Telefonkundennetz in gleicher Weise. Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zwischen kleinen Gruppen und großen Organisationen.

In einer verwandten Studie haben Forscher um Tamás Vicsek von der Eötvös Loránd Universität in Budapest die Schulfreundschaften an US-amerikanischen Schulen untersucht. Rund 90.000 Schüler hatten bei einer Befragung Angaben zu ihren Freunden sowie zu deren und ihrer eigenen ethnischen Herkunft gemacht. Das resultierende Netz der Schulfreunde haben die Forscher wiederum mit der „Cliquen-Perkolationsmethode“ analysiert. Dabei ergab sich erwartungsgemäß, dass Schüler gleicher ethnischer Abstammung bevorzugt Gemeinschaften bildeten. Überraschenderweise verhielten sich weiße und afroamerikanische Schüler aber unterschiedlich, wenn sie an ihrer Schule eine kleine Minderheit waren. Die schwarzen Schüler hatten dann überdurchschnittlich viele weiße Freunde und waren deutlich besser integriert als weiße Schüler in entsprechender Lage. Diese Ergebnisse der Soziophysik sind auch für die Soziologen von großem Interesse.

Rainer Scharf

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