16.11.2012

Ein kühner Denker und nobler Charakter

Vor 50 Jahren starb Niels Bohr. Seine wagemutigen Theorien und seine hartnäckige Diskussionslust inspirierten seine Kollegen und Schüler.

„Nicht oft im Leben hat mir ein Mensch durch seine bloße Gegenwart solche Freude gemacht wie Sie“, schrieb Albert Einstein im Mai 1920 an Niels Bohr, nachdem dieser ihn in Berlin besucht hatte. „Ich studiere jetzt Ihre grossen Arbeiten und habe dabei […] das Vergnügen, Ihr freundliches Jungen-Gesicht vor mir zu sehen, lächelnd und erklärend“. Bohr war zu dieser Zeit 34 Jahre alt, Einstein 41. Beide sollten sich in der Folgezeit noch in intensive Fachgespräche verstricken. Ihren Höhepunkt erreichten sie 1927 auf der fünften Solvay-Konferenz in Brüssel, als sie über die Interpretation der Quantenmechanik stritten. Und obwohl Einstein sich am Ende der Woche geschlagen geben musste, tat das der Freundschaft keinen Abbruch. 

Zwei große Geister der Physik in intensiver Diskussion: Niels Bohr und Albert Einstein im Jahr 1925 in Leiden. (Foto: Paul Ehrenfest)

Vergleicht man das wissenschaftliche Werk Einsteins und Bohrs, so fällt auf, dass Bohrs Originalarbeiten in heutigen Lehrbüchern nicht mehr zitiert werden. Das Bohr-Sommerfeldsche Atommodell hat vor allem einen didaktischen Wert. Doch Bohrs Einfluss auf die Physik des 20. Jahrhunderts werde erst deutlich, wenn man dessen 1913 publizierte Trilogie zur Erklärung der Spektrallinien des Wasserstoffs als ein Forschungsprogramm liest, gab der Physikhistoriker Ulrich Röseberg, Autor einer umfangreichen Bohr-Biografie, zu bedenken. Bohr wählte in seiner Arbeit den kühnen Ansatz, die Kreisbahnen der Elektronen nach den Regeln der klassischen Physik zu berechnen und ihnen gleichzeitig nur bestimmte, quantisierte Zustände zuzuweisen. Die nicht-relativistische Quantenmechanik des 20. Jahrhunderts entwickelte sich, wie Röseberg hervorhob, in der Auseinandersetzung mit den Bohrschen Theorien.

Bohr selbst war sich seines gewagten Schrittes durchaus bewusst. Im März 1913 schickte er seinem Lehrer Rutherford, bei dem er im Vorjahr als Postdoc gearbeitet hatte, das erste Kapitel seiner geplanten Veröffentlichung und bemerkte: „Ich hoffe, Sie finden, daß ich in Bezug auf die heikle Frage der gleichzeitigen Anwendung der alten Mechanik und der neuen, durch die Plancksche Strahlungstheorie nahegelegten Annahmen einen vernünftigen Standpunkt vertrete.“ Rutherford bezeichnete die Arbeit als sehr scharfsinnig und gab zu, dass sie die experimentellen Ergebnisse gut erklärte, fragte aber kritisch: „wie entscheidet ein Elektron, mit welcher Frequenz es schwingen soll, wenn es von einem stationären Zustand in einen anderen übergeht?“.

Einer der ersten, die Bohr zu seiner Veröffentlichung gratulierten, war der Theoretiker Arnold Sommerfeld. Er führte Bohrs Ansatz fort, in dem er 1915 elliptische Bahnen wählte. Zur Beschreibung benötigte er zwei Quantenzahlen, mit denen er nunmehr die Feinstruktur des Wasserstoffspektrums erklären konnte. Bohr selbst wandte sein Modell als nächstes auf die Aufspaltung des Wasserstoffspektrums in elektrischen und magnetischen Feldern an (Stark- und Zeeman-Effekt). In den folgenden Jahren untersuchte er die anderen Elemente des Periodensystems und führte deren chemische Eigenschaften auf die Zahl der Elektronen zurück.

1922 erhielt Bohr den Nobelpreis für Physik, im gleichen Jahr wie Einstein, dem der Preis rückwirkend für 1921 verliehen wurde. Bohr gratulierte dem Kollegen und bemerkte: „Ich weiss, wie wenig ich dies verdient habe“, worauf Einstein antwortete: „Besonders reizend finde ich Ihre Angst, Sie könnten den Preis vor mir bekommen – das ist ächt bohrisch. Ihre neuen Untersuchungen über das Atom haben mich auf meiner Reise [nach Japan] begleitet und meine Liebe zu Ihrem Geist noch vergrössert“.

In der Zwischenkriegszeit wurde Bohrs 1921 eröffnetes Institut für Theoretische Physik in Kopenhagen zum „Mekka der Atomphysik“, das viele junge Talente anzog, unter ihnen Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli und Erwin Schrödinger. In die Geschichte eingegangen ist das Ringen Bohrs und Heisenbergs um die Deutung der Quantentheorie. Ende 1927 verabschiedete sich Bohr in einen vierwöchigen Ski-Urlaub, aus dem er mit dem Komplementaritätsprinzip zurück kam, während Heisenberg zwischenzeitlich seine Unbestimmtheitsrelation formuliert hatte.

Bohr war berühmt-berüchtigt für seine Hartnäckigkeit in Diskussionen. So verfolgte er den erschöpften Erwin Schrödinger während seines Aufenthalts in Kopenhagen bis ans Krankenbett. Und Paul Ehrenfest berichtet vom fünften Solvay-Kongress: „Jede Nacht um 1 Uhr kam Bohr zu mir noch aufs Zimmer, um bis Drei mir nur noch Ein einziges Wort zu sagen.“ Otto Robert Frisch, der in der 1930er Jahren eine der Kopenhagener Konferenzen besuchte, schrieb über die Gespräche, die nach dem Abendessen in Bohrs gastfreundlichem Haus stattfanden: „Ich will nicht sagen, dass Bohr immer recht hatte, doch regte er einen immer zum Denken an und war niemals trivial“.

In den 1930er-Jahren wandte sich Bohr der Kernphysik zu. Sein bedeutendster Beitrag war das Modell des Compound-Kerns, eines Zwischenkerns, der nach dem Beschuss mit Neutronen, Protonen oder Alpha-Teilchen entstand. Bohr wies ihm Energiezustände gemäß der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation zu. Nach Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 1939 war Bohr einer der ersten, der erkannte, dass nur Uran 235 durch langsame Neutronen gespalten werden kann.
1941 marschierten die Nationalsozialisten in Dänemark ein. Ein Wiedersehen mit seinem Schüler Heisenberg führte unter diesen Umständen zu einem Zerwürfnis, das sogar Gegenstand eines Theaterstücks wurde („Copenhagen“ von Michael Frayn). 1943 floh Bohr mit einem Teil seiner Familie in einem überfüllten Fischerboot nach Schweden und vorn dort in die USA. Dort arbeitete am Manhattan-Projekt mit. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zusammen mit Einstein zu den Physikern, die durch öffentliche Stellungnahmen versuchten, ein atomares Wettrüsten zu verhindern. 1954 gehörte er zu den Mitbegründern des CERN.

1962 erlitt Bohr während der Nobelpreisträgertagung in Lindau einen leichten Schlaganfall, von dem er sich aber während der Sommerferien in Italien so weit erholte, dass die Ärzte ihm wieder erlaubten zu arbeiten. Zwei Tage vor seinem Tod leitete er noch eine Sitzung der Dänischen Königlichen Akademie der Wissenschaften. Am 18. November 1962, einem Sonntag, hatte er für den Nachmittag einige Freunde eingeladen. Doch kurz nach dem Mittagsschlaf wurde er bewusstlos und starb.

In welcher Weise Bohr die Entwicklung der modernen Physik beeinflusste, bringt ein Brief Paul Diracs zum Ausdruck, den er 1933 schrieb, um sich für Bohrs Glückwünsche zum Nobelpreis zu bedanken: „Ich fühle, daß alle meine tiefsten Ideen ganz beträchtlich durch die Gespräche, die ich mit Ihnen geführt habe, gefördert worden sind, mehr als durch irgendjemand sonst. Selbst wenn sich dieser Einfluss nicht sehr klar in meinen Schriften äußert, so beherrscht er doch all meine Forschungsvorhaben.“

Anne Hardy

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