19.04.2023

Ein präziseres Modell der Ionosphäre

Mithilfe neuronaler Netze lässt sich die Schicht um die Erde besser als bisher rekonstruieren.

Die Ionosphäre, der Bereich sechzig bis eintausend Kilometer über der Erde, beeinträchtigt mit ihren elektrisch geladenen Teilchen die Ausbreitung von Funksignalen der globalen Satelliten­navigationssysteme (GNSS). Für deren geforderte immer höhere Präzision ist das ein Problem – in Forschung wie in Anwendung, etwa im Bereich autonomes Fahren oder für die genaue Bestimmung der Umlaufbahn von Satelliten. Modelle der Ionosphäre und ihrer ungleich­mäßigen, dynamischen Ladungs­verteilung können helfen, die Signale zu korrigieren. Forschende um Artem Smirnov und Yuri Shprits vom Deutschen Geoforschungs­zentrum GFZ haben nun auf Basis neuronaler Netze und Satelliten­messdaten aus neunzehn Jahren ein neues Modell der Ionosphäre entwickelt. Es kann insbesondere den oberen, elektronen­reichen Teil der Ionosphäre deutlich präziser als bisher rekonstruieren. Damit ist es auch eine wichtige Basis für Fortschritte in der Ionosphären­forschung, mit Anwendungen etwa bei Studien zur Ausbreitung elektro­magnetischer Wellen oder für die Analyse bestimmter Weltraum­wetter-Ereignisse. 

Abb.: Elektronendichte der oberen Ionosphäre rund um die Erde. (Bild: CCBY 4.0...
Abb.: Elektronendichte der oberen Ionosphäre rund um die Erde. (Bild: CCBY 4.0 Smirnov et al. (2023) - Sci. Rep. / GFZ)

In der Ionosphäre dominieren, hervorgerufen durch die Strahlungs­aktivität der Sonne, geladene Teilchen wie Elektronen und positive Ionen. Sie ist für etliche wissenschaftliche aber auch industrielle Anwendungen wichtig, weil die geladenen Teilchen die Ausbreitung von elektro­magnetischen Wellen wie Funksignalen beeinflussen. So ist die iono­sphärische Laufzeit­verzögerung von Funksignalen eine der wichtigsten Störquellen für die Satelliten­navigation. Diese ist proportional zur Elektronen­dichte im durchlaufenen Raum. Daher kann eine gute Kenntnis der Elektronen­dichte bei der Korrektur der Signale helfen. Insbesondere ist der obere Bereich der Ionospähre, oberhalb von 600 Kilometern, von Interesse, da in dieser Topside-Ionosphäre achtzig Prozent der Elektronen versammelt sind. Das Problem: Die Elektronen­dichte variiert stark – abhängig von der Länge und Breite über der Erde, der Tages- und Jahreszeit und der Sonnen­aktivität. Das erschwert ihre Rekon­struktion und Vorhersage, die Basis zum Beispiel für die Korrektur von Funk­signalen. 

Zur Modellierung der Elektronen­dichte in der Ionosphäre gibt es verschiedene Ansätze, unter anderem das Internationale Referenz-Ionosphären­modell IRI, das seit 2014 anerkannt ist. Es ist ein empirisches Modell, bei dem auf Grundlage der statis­tischen Analyse von Beobachtungen eine Beziehung zwischen Eingangs- und Ausgangs­variablen hergestellt wird. Allerdings hat es im wichtigen Bereich der Topside-Ionosphäre noch Schwächen, weil die Datenabdeckung für diese Region limitiert war. Seit kurzem stehen jedoch auch für diesen Bereich große Datenmengen zur Verfügung. Daher bieten sich Ansätze des maschinellen Lernens (ML) an, um hieraus Gesetz­mäßigkeiten abzuleiten, ins­besondere für komplexe nicht-lineare Zusammenhänge. 

Das Team um Artem Smirnov hat einen neuen ML-basierten empirischen Ansatz verfolgt. Hierfür nutzten sie Daten von Satelliten­missionen aus neunzehn Jahren, insbesondere CHAMP, GRACE und GRACE-FO, die maßgeblich vom GFZ mitbe­trieben wurden und werden, und COSMIC. Die Satelliten haben unter anderem die Elektronen­dichte in verschiedenen Höhenbereichen der Ionosphäre vermessen und decken verschiedene Jahres- und Ortszeiten sowie Sonnenzyklen ab. Mithilfe von neuronalen Netzen haben die Forschenden hieraus dann ein Modell für die Elektronen­dichte der Topside-Ionosphäre entwickelt, das sie NET-Modell nennen. Dabei wandten sie die MLP-Methode (Multi-Layer Perceptrons) an, bei der die Eingangs­daten in verschiedenen Schritten optimiert gewichtet werden. Anschließend haben die Forschenden das Modell mit unabhängigen Messungen von drei anderen Satelliten­missionen getestet.

„Unser Model stimmt in bemerkens­werter Weise mit den Messungen überein: Es kann die Elektronen­dichte in allen Höhen­bereichen der Topside-Ionosphäre, in allen Bereichen um die Erde, zu allen Jahres- und Tageszeiten und verschiedenen Leveln der Sonnenaktivität sehr gut rekonstruieren und es übertrifft das inter­nationale Referenz-Ionosphären­modell IRI signifikant an Genauigkeit. Darüber hinaus deckt es den Raum kontinuierlich ab“, resümiert Artem Smirnov.& Yuri Shprits ergänzt: „Diese Studie stellt einen Paradigmenwechsel in der Ionosphären­forschung dar, denn sie zeigt, dass iono­sphärische Dichten mit sehr hoher Genauigkeit rekonstruiert werden können. Das NET-Modell bildet die Auswirkungen zahlreicher physikalischer Prozesse ab, die die Dynamik der Topside-Ionosphäre bestimmen, und kann in der Ionosphären­forschung breite Anwendung finden.“

Mögliche Anwendungen sehen die Forschenden zum Beispiel in Studien zur Wellen­ausbreitung, zur Kalibrierung neuer Elektronen­dichte-Datensätze mit oft unbekannten Baseline-Offsets, für tomo­graphische Rekonstruk­tionen in Form eines Hintergrund­modells sowie zur Analyse spezifischer Weltraum­wetterereignisse und zur Durchführung langfristiger Ionosphären-Rekonstruk­tionen. Darüber hinaus kann das entwickelte Modell mit plasma­sphärischen Höhen verbunden werden und somit eine neue Topside-Option für das IRI darstellen. 

Der entwickelte Rahmen ermöglicht die nahtlose Einbindung neuer Daten und neuer Datenquellen. Das Umlernen des Modells, also das Trainieren an den neuen Daten, kann auf einem Standard-PC erfolgen und regelmäßig durchgeführt werden. Insgesamt stellt das NET-Modell eine erhebliche Verbesserung gegenüber herkömm­lichen Methoden dar und verdeutlicht das Potenzial von Modellen auf Basis Neuronaler Netze für eine genauere Darstellung der Ionosphäre für Kommu­nikations- und Navigations­systeme, die auf GNSS angewiesen sind.

GFZ Potsdam / JOL

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