Ein unterschätzter Effekt
Mit einfachen Experimenten nehmen Forscher jetzt genau unter die Lupe, wie Grenzflächen das Schmelzverhalten von Molekülen beeinflussen.
Mit einfachen Experimenten nehmen Forscher jetzt genau unter die Lupe, wie Grenzflächen das Schmelzverhalten von Molekülen beeinflussen.
Wenn genug Wasserdampf an kleinen Staubkörnchen der Atmosphäre kondensiert, regnet es - ein lang bekanntes Phänomen. Trotzdem weiß man bis heute noch nicht im Detail, wie die Oberfläche der Körnchen sich auf die Tropfenbildung auswirkt. Überhaupt ist noch weitgehend ungeklärt, wie stark Grenzflächen der Umgebung das Phasenverhalten von Molekülen beeinflussen. Max-Planck Wissenschaftler haben jetzt eine einfache Methode entwickelt, mit der sie diese Effekte quantitativ messen und theoretisch analysieren können. Durch die Weiterentwicklung ihrer Experimente erhoffen sich die Forscher, bisher noch ungeklärte Vorgänge beim Sintern oder auch bei der Verkalkung von Rohren besser zu verstehen.
Es ist schon lange bekannt, dass das Phasenübergangsverhalten, wie das Schmelzen oder die Kondensation, durch Grenzflächeneffekte beeinflusst wird. Allerdings spielen sie meist nur bei nanoskopisch kleinen Körpern eine Rolle: Winzig kleine Aggregate schmelzen zum Beispiel bei niedrigeren Temperaturen als größere Partikel der gleichen Substanz. Sie haben im Vergleich zum Gesamtvolumen eine größere Oberfläche und damit mehr Moleküle, die veränderten Wechselwirkungen unterliegen. „Bisher wurden Einflüsse der angrenzenden Grenzflächen meist unterschätzt und blieben relativ unbeachtet“, sagt Hans Riegler von der Abteilung Grenzflächen des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam. Aber der Forscher weiß: Dieser Effekt ist höchst relevant für viele Phänomene des Alltags und für industrielle Anwendungen. So hat man zum Beispiel noch lange nicht alle Vorgänge beim Sintern verstanden – ein jahrhundertealtes, industrielles Verfahren, bei dem fein zermahlte Feststoffe miteinander verschmolzen werden, ohne sie bis zu ihrem Schmelzpunkt zu erhitzen.
Grenzflächeneffekte sind meist schwierig quantitativ zu messen, insbesondere im Fall von Festkörperoberflächen. Denn sie spielen oft nur bei nanometergroßen Systemen eine Rolle. Geringste Verunreinigungen können die Messungen stören. „Fast alle experimentellen Ergebnisse, die bisher im Zusammenhang von Grenzflächen, Systemgröße und Phasenverhalten veröffentlicht wurden, sind von qualitativer Natur oder zumindest quantitativ ziemlich zweifelhaft“, sagt der Potsdamer Forscher.
Hans Riegler und sein Doktorand Ralf Köhler haben nun eine einfache Methode entwickelt, mit der sie den Zusammenhang zwischen Phasenverhalten und Grenzflächeneigenschaften genau untersuchen können. „Vor allem sind unsere Untersuchungen quantitativ“, betont Hans Riegler. „Obwohl einiges grundsätzlich schon seit Jahrzehnten bekannt ist, sind unsere experimentellen Ergebnisse und deren theoretische Deutung sehr viel klarer und eindeutiger als alle bisherigen Untersuchungen“.
Ihre Experimente beruhen auf optischer Auflichtmikroskopie. Damit lassen sich Teilchen auf einer Oberfläche als Helligkeitskontrast gegenüber der Umgebung abbilden. Wenn die Partikel schmelzen und sich dabei deren Moleküle gleichmäßig als Film auf der Oberfläche verteilen, ist nichts mehr durch das Mikroskop zu erkennen. Man kann damit also Schmelzvorgänge untersuchen. „Fast jedes Physiklabor hat die nötigen Geräte dafür. Unsere Studenten haben diese Experimente sogar schon in Praktikumsversuchen nachvollzogen“, erzählt Hans Riegler.
Für ihre Untersuchungen verwendeten die Wissenschaftler langkettige Alkane auf verschieden präparierten planaren Silica-Oberflächen. Die Alkane bilden in ihrer festen Phase Schollen mit einer einheitlichen Schichtdicke. Diese entspricht gerade einer Moleküllänge, da sich die Alkane im festen Zustand auf Oberflächen aufrecht nebeneinander anordnen. Wenn die Alkane schmelzen, nimmt die Schichtfläche ab (Abb.). Da sie monomolekular ist, ist die Abnahme proportional zur Anzahl der geschmolzenen Alkanmoleküle.
Abb.: Als Muster zeichnet sich eine feste Schicht aus Kohlenwasserstoffketten ab. Bei Temperaturerhöhung verschwinden die Muster der monomolekular dicken Alkanschicht stückweise. Die Abnahme der Schichtfläche ist dabei proportional zur Anzahl der geschmolzenen Alkanmoleküle. (Bild: MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung)
Wenn die Alkane schmelzen, verschwinden die Domänen. Normalerweise sollte dies bei einer bestimmten Temperatur, dem Schmelzpunkt, geschehen. Wenn die Silica-Oberfläche so behandelt ist, dass sie von den flüssigen Alkane nicht komplett benetzt wird, schmelzen die Alkanschollen tatsächlich genau bei einer bestimmten Temperatur und bilden flache, flüssige Tropfen. Wenn die Alkane hingegen stark genug mit den Silica-Oberflächen wechselwirken, sodass sie diese komplett benetzen, verschwindet der scharfe Schmelzpunkt und weitet sich zu einem Schmelzbereich aus. Die festen Alkanschichten fangen schon weit unterhalb ihres „regulären“ Schmelzpunktes an nach und nach flüssig zu werden. „Wir konnten das grenzflächen-induzierte Alkanschmelzen noch bis zu 50 Grad Celsius unter dem allgemeinen Schmelzpunkt quantitativ vermessen“, sagt Hans Riegler. Die festen Alkanschollen verschwinden also Stück für Stück.
„Dass der Schmelzpunkt sich zu einem Schmelzbereich aufweitet, ist auf den Einfluss der Silica-Oberflächenbereiche zurückzuführen, welche die festen Alkanschollen umgeben“, erklärt Riegler. Die Energie zum Schmelzen, die normalerweise durch Temperaturerhöhung aufgebracht werden muss, erhalten die flüssigen Alkane durch die Benetzung der Silica-Oberfläche. Das heißt, die Alkane wandern gerne aus den festen Schollen in die Umgebung ab, mit der sie dann anziehend wechselwirken. Dabei wird Benetzungsenergie frei. Solange diese größer oder gleich der Schmelzenergie ist werden die Alkane flüssig, bevor sie ihren eigentlichen Schmelzpunkt erreicht haben.
Die Alkane verhalten sich im Prinzip wie frierende Menschen auf einem Fußballfeld: Ist es kalt, drängen sich die meisten Menschen in einem Pulk, um sich gegenseitig zu wärmen. Es werden sich aber immer wieder einige Menschen vom Pulk lösen, um sich aufzuwärmen, indem sie auf dem Feld umher rennen. Deren Anzahl ist allerdings limitiert. Denn sind es zu viele, dann behindern sie sich gegenseitig. Eine bestimmte Menge bleibt daher immer im Pulk. So wird auch bei den Alkanen immer weniger Benetzungsenergie frei, desto stärker die Silica-Fläche von den Molekülen belegt ist. Ab einer bestimmten Belegung schmelzen keine zusätzlichen Alkane mehr. Es stellt sich eine bestimmte Verteilung zwischen festen Alkanen in den Schollen und flüssigen Alkanen auf der umgebenden Silica-Oberfläche ein.
Wann die Alkane komplett geschmolzen sind, hängt aber nicht nur von der Temperatur ab. Je weniger Moleküle pro Gesamtfläche aufgetragen sind, desto weniger muss man sie erhitzen bis die feste Alkanschicht restlos geschmolzen ist. Auch das lässt sich durch die Analogie erklären: Sind insgesamt nur wenige Menschen auf dem Platz, so werden diese selbst bei großer Kälte umherlaufen, anstatt sich in einem Pulk zu versammeln: Für alle ist genug Platz vorhanden. Sind dagegen von Anfang an große Menschenmassen auf dem Feld, haben nur sehr wenige Platz sich warm zulaufen. Je höher die Alkandichte insgesamt ist, umso mehr Alkane bleiben in den festen Schollen. Die Temperatur, bei der die feste Alkanschicht restlos schmilzt, nimmt also mit zunehmender Alkanbelegung zu.
Dies haben sich die Potsdamer Forscher bei ihrem Experiment zu Nutzen gemacht. Sie haben für verschiedene Alkanbelegungen gemessen, bei welcher Temperatur die festen Alkanschollen komplett abschmelzen. „Das ist mikroskopisch leicht zu sehen. Auch die Alkanbelegung ist sehr genau und einfach durch die Probenpräparation einstellbar“, sagt Hans Riegler. Auf diese Weise haben die Forscher klare, quantitative Ergebnisse für das Schmelzverhalten der Alkane erhalten. „Technisch erheblich aufwändiger wäre dagegen gewesen, die Abnahme der Alkanschollen temperaturabhängig zu bestimmen“, so Riegler.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass auch die Grenzflächen der Umgebung eine große Rolle beim Phasenverhalten spielen und nicht nur die Oberflächen der Substanz, die den Phasenübergang durchläuft, wie üblicherweise angenommen wird“, sagt Hans Riegler. „Vor allem zeigen sie auch quantitativ, wie die Benetzungseigenschaften des Systems mit dessen Phasenverhalten zusammenhängen.“ Damit beweisen die Forscher, dass Grenzflächen eben nicht nur das Phasenverhalten nanometerkleiner Partikel beeinflussen: Selbst deutlich unterhalb des eigentlichen Schmelzpunktes wandern auch bei größeren Partikeln Moleküle auf umgebende Grenzflächen ab. „Vor allem für das Sintern kann das wertvolle Aufschlüsse geben“, so Hans Riegler.
Die Experimente zeigen eine recht allgemeine Perspektive: Zum einen funktioniert die einfache Messmethode nicht nur mit langkettigen Alkanen, sondern auch mit vielen anderen Substanzen, wie Alkohole, Fettsäuren, und vor allen auch Flüssigkristall-Verbindungen. Alle diese Substanzen ordnen sich aufrecht stehend an der Grenzfläche an. „Mit höherem experimentellem Aufwand lassen sich außerdem analoge Untersuchungen mit anderen Aggregatformen und Oberflächen durchführen“, so Hans Riegler. „Keimbildungsvorgänge wie Nebel oder Wolkenbildung könnten damit besser verstanden werden.“ Auch die Kalkbildung in Wasserleitungen ist eine Phasenumwandlung und hängt nicht nur von der Wasserzusammensetzung, sondern auch von den Oberflächen der Rohre ab. Ein in jedem Haushalt lästiges Phänomen, das es durch Weiterentwicklung der Experimente noch im Detail zu erforschen gilt.
Quelle: MPG [INK/BA]
Weitere Infos:
- Originalveröffentlichung:
Hans Riegler, Ralf Köhler, How pre-melting on surrounding interfaces broadens solid-liquid phase transitions, Nature Physics, online (4. Nov 2007).
http://dx.doi.org/10.1038/nphys754 - Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.:
http://www.mpg.de - Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Golm:
http://www.mpikg.mpg.de