Einblicke in exotische Zustände in Quantenmaterialien
Neuer Quantenalgorithmus ermöglicht Simulation von Anyon-Anregungen.
Während die Anzahl der Qubits und die Stabilität der Quantenzustände die derzeitigen Quantencomputer noch begrenzen, gibt es Fragen, bei denen diese Prozessoren ihre enorme Rechenleistung bereits jetzt nutzen können. In Zusammenarbeit mit dem Google Quantum AI Team haben Wissenschaftler der TU München und der University of Nottingham mit einem Quantenprozessor den Grundzustand eines „Toric Code-Hamiltonian“ simuliert – ein archetypisches Modellsystem in der modernen Physik der kondensierten Materie, das ursprünglich im Zusammenhang mit der Quantenfehlerkorrektur vorgeschlagen wurde.
Wie wäre es, in einer flachen, zweidimensionalen Welt zu leben? Physiker sagen voraus, dass die Quantenmechanik in diesem Fall noch seltsamer wäre. Beispielsweise würde es exotische Teilchen geben, „Anyons“, die es in unserer dreidimensionalen Welt nicht gibt. Doch diese unbekannte Welt ist nicht nur eine Kuriosität, sondern möglicherweise der Schlüssel zu Erschließung von Quantenmaterialien und -technologien der Zukunft. Das Team hat einen gut kontrollierbaren Quantenprozessor eingesetzt, um solche Quantenmaterie-Zustände simulieren.
Alle Partikel in unserer dreidimensionalen Welt sind entweder Bosonen oder Fermionen. Jedoch wurde bereits vor fast fünfzig Jahren theoretisch vorhergesagt, dass andere Arten von Teilchen, eben die Anyons, existieren könnten, wenn Materie auf zwei Dimensionen beschränkt ist. Solche zweidimensionalen Systeme sind die topologischen Phasen der Materie, deren Entdeckung 2016 mit dem Nobelpreis gewürdigt wurde. Hier können Anyon-Teilchen als kollektive Anregungen entstehen.
„Das Verdrehen von Paaren dieser Anyons durch Umeinanderbewegen in der Simulation enthüllt ihre exotischen Eigenschaften – Physiker nennen das Flechtstatistiken“, sagt Adam Smith von der University of Nottingham. Ein einfaches Bild für diese kollektiven Erregungen ist die „La Ola-Welle“ eines Stadionpublikums – sie hat eine genau definierte Position, aber sie kann ohne die Tausenden von Menschen nicht existieren, aus denen sich die Menge zusammensetzt. Die experimentelle Realisierung und Simulation solcher topologisch geordneter Zustände haben sich jedoch als äußerst schwierig erwiesen. In den Experimenten programmierte das Team den Quantenprozessor von Google, um diese zweidimensionalen Zustände der Quantenmaterie zu simulieren.
„Googles ‚Sycamore‘ Quantenprozessor kann präzise gesteuert werden und ist ein gut isoliertes Quantensystem, was eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung von Quantenberechnungen ist“, sagt Kevin Satzinger, ein Wissenschaftler aus dem Google-Team. Mit dem von ihm entwickelten Quantenalgorithmus konnte das Forschungsteam schließlich Zustände mit topologischer Ordnung realisieren, Anyon-Anregungen simulieren und gegeneinander verdrehen. Die Simulation zeigte auch die Auswirkungen weitreichender Quantenverschränkung.
Eine mögliche Anwendung solcher topologisch geordneter Zustände sind neue Methoden der Fehlerkorrektur, um Quantencomputer zu verbessern. Erste Schritte in Richtung dieses Ziels wurden bei den Experimenten bereits erreicht. „Schon bald werden Quantenprozessoren eine ideale Plattform darstellen, um die Physik exotischer Phasen von Quantenmaterialien zu erforschen“, sagt Frank Pollmann von der TU München. „In naher Zukunft versprechen Quantenprozessoren, Probleme zu lösen, die für die heutigen klassischen Supercomputer unerreichbar sind.“
TUM / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
K. J. Satzinger et al.: Realizing topologically ordered states on a quantum processor, Science 374, 1237 (2021); DOI: 10.1126/science.abi8378 - Theoretische Festkörperphysik, Technische Universität München
- Google Quantum AI, Mountain View, USA
- Centre for the Mathematics and Theoretical Physics of Quantum Non-Equilibrium Systems, University of Nottingham, Großbritannien