18.08.2022 • BiophysikStatistische Physik

Eine Brücke vom Großen ins Kleine

Neue Theorie ermöglicht die Simulation komplexer Musterbildung in biologischen Systemen über unterschiedliche räumliche und zeitliche Skalen.

Für viele lebens­wichtige Prozesse wie Zellteilung, Zell­migration oder die Entwicklung von Organen ist die räumlich und zeitlich korrekte Bildung biologischer Muster essenziell. Um diese Prozesse zu verstehen, gilt es nicht in erster Linie zu erklären, wie sich Muster aus einem homogenen Anfangs­zustand heraus ausbilden, sondern vielmehr wie sich einfache Muster in immer komplexer werdende Muster verwandeln. Die Mechanismen dieser komplexen Selbst­organisation auf unter­schied­lichen räumlichen und zeitlichen Skalen aufzuklären, ist eine zentrale wissen­schaftliche Heraus­forderung.

Abb.: Die nicht­lineare Dynamik zwischen den Min-Proteinen führt zu...
Abb.: Die nicht­lineare Dynamik zwischen den Min-Proteinen führt zu kom­plexen Mustern ent­lang einer flachen Mem­bran­fläche. (Bild: L. Würthner, LMU)

Mit „Coarse Graining“ – also „vergröbernden“ Verfahren – können solche multi­skaligen Systeme vereinfacht werden, sodass sie mit einem reduzierten Modell auf großen Längen- und Zeitskalen beschrieben werden können. „Der Preis, den man durch Coarse Graining allerdings bezahlt ist, dass wesentliche Informa­tionen über die Muster auf den kleinen Skalen verloren gehen. Diese Muster spielen aber eine entscheidende Rolle in biologischen Systemen, weil sie beispiels­weise wichtige zelluläre Prozesse steuern“, erklärt Laeschkir Würthner aus dem Team von Erwin Frey an der Uni München. Freys Team hat in Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Cees Dekker an der TU Delft für masse­erhaltende Reaktions-Diffusions-Systeme jetzt einen neuen Coarse-Graining-Ansatz entwickelt, bei dem die groß­skalige Analyse der Gesamt­dichten der beteiligten Teilchen die Vorhersage von Mustern auf kleinen Skalen ermöglicht.

Die Wissenschaftler veran­schau­lichen das Potenzial ihres Ansatzes anhand des Min-Protein-Systems, einem wichtigen Modell für die biologische Muster­bildung. Das Bakterium E. coli legt mithilfe verschiedener in der Zelle zirku­lierender Min-Proteine fest, an welcher Stelle die Zell­teilung erfolgt. Entscheidend ist dabei, dass die beteiligten Proteine je nach ihrer Lokalisation in der Zelle und chemischen Zustand unter­schiedlich häufig sind, also eine Vielzahl unter­schied­licher Dichten aufweisen. „Uns ist es gelungen, die Komplexität dieses Systems zu reduzieren, indem wir eine Theorie entwickelt haben, die lediglich auf den Gesamt­dichten der Proteine basiert, um die Dynamik der Muster­bildung voll­ständig wider­zu­spiegeln“, sagt Frey. „Das ist eine enorme Reduktion. Die numerischen Berechnungen dauern dadurch nur Minuten anstatt Monate.“

Theoretische Vorher­sagen des Modells, nach denen die Verteilung der Proteine von der Geometrie der Umgebung abhängt, konnten die Forscher auch experi­mentell bestätigen, indem sie das Min-Protein­system in einer In-vitro-Durch­fluss­zelle nach­bauten: Dabei zeigten sich dieselben Protein­muster wie in der Simulation. „Eine solche Rekonstruktion von Informationen auf kleiner Längenskala aus einer reduzierten Dynamik auf makro­skopischer Ebene eröffnet neue Wege für ein besseres Verständnis von komplexen Multi­skalen­systemen, die in einem breiten Spektrum von physi­ka­lischen Systemen vorkommen“, sagt Frey.

LMU / RK

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