Einen Chateau Lafite auf den Untergang des Paritätsgesetzes
Zum 100. Geburtstag von Chien-Shiung Wu.
„Dr. Hudson öffnete lächelnd eine Schublade, holte eine Flasche Chateau Lafite Rothschild 1949 hervor, stellte sie auf den Tisch und ein paar Pappbecher dazu. Wir tranken auf den Untergang des Paritätsgesetzes“. So schildert die chinesisch-amerikanische Physikerin Chien-Shiung Wu den denkwürdigen 9. Januar 1957, als sie mit ihren Kollegen vom National Bureau of Standards sicher war: Beim Beta-Zerfall von Kobalt-60 ist die Parität verletzt. Einen Tag später wartete die New York Times mit einer Schlagzeile auf der Titelseite auf. Und kurz darauf wurde das „Wu-Experiment“ beim Jahrestreffen der American Physical Society in New York aufgeregt diskutiert. Als Wolfgang Pauli im fernen Europa davon erfuhr, erklärte er: „Das ist kompletter Unfug“. Was beweist: So leicht verabschiedet man sich nicht von einem Dogma.
Begonnen hatte das Abenteuer im Frühjahr 1956 an der Columbia-University/New York, als der Theoretiker Tsung Dao Lee seine Kollegin Wu in ihrem kleinen Büro im 13. Stock der Puppin Laboratorien aufsuchte. Lee hatte mit Chen Ning Yang vom Institute for Advanced Study in Princeton intensiv über den Zerfall des geladenen K-Mesons nachgedacht. Das kurzlebige Teilchen, das bei der Kollision beschleunigter Protonen mit Atomkernen entstand, trat offenbar in zwei Varianten mit entgegengesetzter Parität auf: Die eine zerfiel in zwei, die andere in drei Pionen.
Lee fragte nun Wu, ob der Erhalt der Parität beim Beta-Zerfall jemals experimentell überprüft worden war. Nach dem Krieg, in dem die Kernphysikerin am amerikanischen Atombomben-Projekt gearbeitet hatte, hatte sie den Beta-Zerfall von 1946 bis 1952 erforscht. Sie gab zu, man sei bisher stillschweigend davon ausgegangen, dass eine räumliche Spiegelung der experimentellen Anordnung die Messergebnisse nicht beeinflusst. „Im Anschluss an Professor Lees Besuch begann ich die Sache zu durchdenken. Dies war eine goldene Gelegenheit für einen Beta-Zerfall-Physiker auf eine Feuerprobe, und wie hätte ich sie vorbeigehen lassen sollen?“
Die chinesisch-amerikanische Physikerin Chien-Shiung Wu (1912-1997) im Jahr 1963 an der Columbia University (Smithsonian Institution Archives)
Eigentlich hatte „Miss Wu“, wie sie auch nach ihrer Heirat mit dem chinesischen Physiker Luke Chia-liu Yuan genannt wurde, mit ihrem Mann den Besuch einer internationalen Konferenz für Hochenergie-Physik in Genf geplant. Anschließend wollten beide zu einer Vorlesungsreihe in ihre Heimat aufbrechen, die sie seit 20 Jahren nicht besucht hatten. Wu, geboren am 31. Mai 1912 in der Nähe von Shanghai, hatte China nach dem Ende ihres Physikstudiums mit nur 23 Jahren verlassen, um ihre Doktorarbeit an der University of California in Berkeley zu machen. Nun war ihre Schiffspassage auf der Queen Elisabeth bereits gebucht, als sie ihren Mann bat, allein zu fahren. Das gab ihr einen kleinen Vorsprung vor ihren Kollegen. Denn Lee und Yang nannten im Juni 1956 in einer Publikation einige Experimente, mit denen man den Erhalt der Parität überprüfen konnte.
Eines der vorgeschlagenen Experimente bestand darin zu messen, in welche Richtung die Elektronen beim Beta-Zerfall von Kobalt-60 emittiert wurden, wenn die Kernspins bei tiefen Temperaturen in einem Magnetfeld ausgerichtet waren. Bei erhaltener Parität mussten genauso viele Elektronen parallel wie antiparallel zur Spinrichtung gestreut werden. Dieses Experiment zu realisieren, war 1956 alles andere als Routine. Wu wandte sich an Ernest Ambler vom Tieftemperatur-Labor des National Bureau of Standards in Washington, der sofort von ihrem Plan begeistert war. Sein Labor verfügte nicht nur über die Möglichkeit, Proben auf 0,003 Kelvin abzukühlen, sondern hatte auch Erfahrung darin, Atome in Magnetfeldern auszurichten. Amblers Mitarbeiter Raymond W. Hayward, Dale D. Hoppes und Ralph P. Hudson verstärkten die Gruppe.
Nach aufregenden und nervenzerrenden Tagen und Nächten fuhr Wu am Weihnachtsabend 1956 mit dem letzten Zug nach New York zurück. Heftige Schneefälle hatten den Flugverkehr lahm gelegt. Noch in der Nacht überbrachte sie Lee die aufregende Nachricht: Die beobachtete Asymmetrie zwischen den Streurichtungen der Elektronen war groß. Das sprach für eine maximale Verletzung der Parität.
Eine letzte Serie von Tests in der ersten Januarwoche 1958 bestätigte das Ergebnis, das sich gerüchteweise in der Community bereits herum gesprochen hatte. Isidor Rabi, ein Kollege Wus an der Columbia University, kommentierte: „In einem gewissen Sinn ist ein so gut wie vollständiges Theorie-Gebäude in seinen Fundamenten erschüttert worden, und wir sind nicht sicher, wie wir die Teile wieder zusammen setzen sollen.“ Das Experiment bedeutete einen entscheidenden Schritt zum Verständnis der schwachen Wechselwirkung und bahnte den Weg zur Vereinigung der schwachen und der elektromagnetischen Wechselwirkung.
Lee und Yang erhielten noch im selben Jahr den Nobelpreis für Physik. Kritiker meinen, Wu und Ambler hätten den Preis ebenfalls verdient. Sie halten die Entscheidung des Nobelkomitees für eine Missachtung der experimentellen gegenüber der theoretischen Physik und verweisen auf die Nobelstatuten, die den Preis für eine bedeutende Entdeckung oder Erfindung vorsehen. Andererseits hatten Lee und Yang das Experiment bereits vorgeschlagen und damit den Weg vorgezeichnet.
Die schlagartige Bekanntheit brachte aber auch Chien-Shiung Wu einige Anerkennung. Die Columbia University ernannte die inzwischen 45-Jährige zum „full professor“, und die Princeton University verlieh ihr als erster Frau einen Ehrendoktortitel mit der Begründung, sie sei eine der weltweit herausragenden weiblichen Experimental-Physiker. Als Wu im Alter von 84 Jahren in Manhattan starb, würdigte sie Lee als einen der „giants of physisics“. Wus Vermächtnis: „Ich habe immer gespürt, dass man sich der Physik total und ohne Einschränkung widmen muss. Sie ist nicht irgendein Job. Sie ist eine Lebensweise.“
Anne Hardy