Elektronen auf Umwegen
Eine Forschergruppe hat nachgewiesen, dass auch stärker gebundene Elektronen durch die Ionisation in einem Laserfeld freigesetzt werden können.
In einem Molekül bewegen sich die Elektronen in verschiedenen Orbitalen, wobei sich in jedem Orbital höchstens zwei Elektronen aufhalten können. Die Orbitale haben unterschiedliche Energieniveaus. Beim höchsten besetzte Orbital ist die geringste Energie nötig, um ein Elektron herauszulösen. Daher liegt es nahe, dass sich bei der Ionisation ein Elektron aus genau dem höchsten besetzten Orbit herauslöst. An dieser These hegten Theoretiker aber schon länger Zweifel, denn viele Beobachtungen ließen sich damit nicht gut erklären. In Experimenten gab es zwar auch schon Hinweise darauf, dass sich Elektronen aus einem niedrigeren Orbit lösten, doch überlagerten sich darin so viele Effekte, dass der eindeutige Beweis noch fehlte. Dieser Beweis sei jetzt dem Berliner Max-Born-Institut (MBI) gelungen, wie Marc Vrakking, der dort Direktor ist, erklärt.
Abb.: Links: Molekül mit Orbitalen in rot und blau (erdnussförmig). Das starke Laserfeld verformt die Orbitale, sie dehnen sich überwiegend nach rechts aus (rotes Gitter). Schließlich werden Elektronen aus den Orbitalen herausgelöst. Die blauen und roten (gitterförmigen) Flächen stellen die möglichen Aufenthaltsorte der Elektronen dar. Rechts die Ionen, die nach der Ionisation zurückbleiben: Die blauen Ionen gehören zu den blau dargestellten Elektronen und sind stabil, die roten Ionen sind zerfallen. (Bild: NRC Canada)
Eine Gruppe von Forschern des kanadischen National Research Council (NRC), des AMOLF (Amsterdam) und des MBI ionisierte bei ihrem Experiment ein Molekül in einem starken Laserfeld. Die Wissenschaftler maßen dann nicht nur die Energie des herausgelösten Elektrons, sondern parallel dazu die des molekularen Ions. Wenn ein Elektron des höchsten besetzten Orbitals fehlt, ist das Ion stabil und verändert sich nicht so schnell. Fehlt jedoch ein Elektron eines niedrigeren Orbitals, muss vorher mehr Energie in das Molekül gesteckt worden sein. Damit befindet sich das Molekül in einem angeregten und damit nicht stabilen Zustand, es fällt leichter auseinander. „Bei den Elektronen konnten wir neben denen, die aus dem höchsten Orbit stammten, auch Elektronen mit unterschiedlichen Energien messen – hier war es möglich, dass sie aus einem niedrigeren Orbit stammten“, berichtet Vrakking. „Den Beweis hatten wir dann, als wir gleichzeitig sehen konnten, dass das Ion zerfallen war.“
Die Ergebnisse ermöglichen ein neues Verständnis in der Attosekundenforschung, die auf der Ionisation in starken Laserfeldern basiert. Aber auch für chemische Prozesse eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Wenn nicht nur Elektronen aus dem höchst besetzten Orbital, sondern auch aus niedrigeren Orbitalen ionisieren, dann verbleibt nach den Gesetzen der Quantenmechanik nämlich ein Molekül, in dem sich die Elektronen sehr schnell bewegen – wie ein „Strom“ von Elektronen. Das hat Einfluss darauf, wie das Molekül chemisch reagiert. Eine Reaktion kann dadurch schneller ablaufen – von der Femtosekunden-Skala hin zur Attosekunden-Skala. Der Elektronenstrom innerhalb eines Moleküls kann aber auch dazu führen, dass es bestimmte chemische Reaktionen bevorzugt. Das könnte einen Paradigmenwechsel für die Fähigkeit von Molekülen zu chemischen Reaktionen bedeuten: Sie könnten dann durch die Bewegung von Elektronen verursacht werden und nicht mehr durch die der Atomkerne. Wissenschaftler könnten chemische Prozesse unmittelbar beeinflussen.
FVB / PH