Elektronen im Rückwärtsgang
Vierteilchendynamik der Transfer-Ionisation in Ion-Helium-Kollisionen beobachtet.
Das Zweikörperproblem wurde bereits von Newton gelöst, der damit die den Keplerschen Gesetzen folgenden Umläufe der Himmelskörper auf Basis des Gravitationsgesetzes und der von ihm begründeten „klassischen“ Mechanik in mathematisch geschlossener Form darstellen konnte. In der Quantenphysik erweist sich das Wasserstoffatom als Zweikörperproblem des Mikrokosmos im Sinne der Schrödingerschen Wellenmechanik ohne Näherungen als lösbar. Aber schon bei drei (und mehr) Teilchen ist man auf Näherungsverfahren und numerische Methoden angewiesen.
Abb.: Winkelverteilung des freigesetzten Elektrons relativ zur Flugrichtung des Projektils für Li3+-He-Stöße. Transfer-Ionisation: (a) gemessene Daten, (b) Theorie (e-e-Prozess + unabhängiger Prozess). Theorie: (c) Einfachionisation, (d) unabhängiger Prozess allein. (Bild: MPIK)
Ein Modellsystem für das Vierkörperproblem ist die Kollision eines Ions (z. B. eines Protons) als Projektil mit einem Heliumatom, das aus seinem Atomkern und zwei Elektronen besteht, als Target. Hierbei sind das Projektil und der Targetkern positiv, die Elektronen negativ geladen. In einer vollständigen Beschreibung müssen alle wechselseitigen anziehenden bzw. abstoßenden elektrischen Kräfte berücksichtigt werden.
Ein besonders interessanter Prozess bei einem solchen Stoß ist die Transfer-Ionisation. Hier wird eines der Elektronen von dem Ion eingefangen, während zugleich das andere Elektron freigesetzt wird. Ist das Projektil ein Proton, so hat man im Endzustand ein doppelt ionisiertes Helium-Ion (Heliumkern), ein Wasserstoffatom (Proton plus eingefangenes Elektron) und ein freies Elektron. Ein wichtiger Parameter dabei ist der Quotient aus Ladung und Geschwindigkeit des Projektils als Maß für die Stärke und Dauer der Wechselwirkung.
Um den zugrunde liegenden Mechanismen der Transfer-Ionisation genauer auf den Grund zu gehen, haben Physiker des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK), der Missouri University of Science & Technology und der Universität Frankfurt die Reaktionsprodukte vermessen. Die Geschwindigkeiten und Richtungen der Teilchen geben Aufschluss darüber, wie ein solcher Prozess im Detail abläuft.
Durchgeführt wurden die Experimente am TSR-Speicherring des MPIK und am Institut für Kernphysik der Universität Frankfurt mit einem Reaktionsmikroskop zum Nachweis der Reaktionsprodukte. Im Ergebnis zeigte sich, dass das bei Transfer-Ionisation freigesetzte Elektron vorzugsweise entgegen der Flugrichtung des Projektils beobachtet wird. Eine Tendenz zur Emission in Rückwärtsrichtung wurde bereits früher in Experimenten der Frankfurter Gruppe beobachtet, nicht aber in dieser Bündelung und Deutlichkeit.
Abb.: Schematische Illustration zur Transferionisation p + He: (a) e-e-Prozess, (b) unabhängiger Prozess. (c) Impulsverteilung des freigesetzten Elektrons entlang der Projektilrichtung: Experiment (Punkte) und Theorie (Linien). (Bild: MPIK)
Als Erklärung dient ein Mechanismus, der erst vor einigen Jahren von Alexander Voitkiv, theoretischer Physiker am MPIK, vorgeschlagen und berechnet wurde. Die zugrunde liegende Idee ist recht einfach: das Projektil bewegt sich in den betrachteten Fällen deutlich schneller als das um den Heliumkern kreisende einzufangende Elektron. „Dieses muss sozusagen auf den fahrenden Zug aufspringen“, so Daniel Fischer, Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe am MPIK. „Dabei gilt Newtons Prinzip ‚actio = reactio“, d. h. das Elektron braucht einen Rückstoßpartner, um sich auf die Geschwindigkeit des Projektils zu beschleunigen“. Eine Möglichkeit ist hier die Wechselwirkung mit dem anderen Elektron (e-e-Prozess), welches dabei freigesetzt wird und einen Rückstoß in die entgegengesetzte Richtung erfährt. Der Heliumkern spielt hier die Rolle eines fast passiven „Zuschauers“.
Freilich kann auch das Projektil selbst das andere Elektron herausschlagen, welches dann aber eher seitwärts emittiert wird. Die Charakteristik ähnelt dann einer direkten Ionisation des Heliumatoms im Ionenstoß. Beide Mechanismen zeigen sich im Experiment, wobei der e-e-Prozess sogar dominieren kann.
„Bemerkenswert ist die Tatsache, dass wir den e-e-Prozess auch noch bei recht großen Störungen durch das Projektil so deutlich sehen“, sagt Michael Schulz aus Missouri, zurzeit Gastwissenschaftler am MPIK. „Wir hätten eher erwartet, dass hier die Wechselwirkung mit dem Projektil überwiegt.“ Insgesamt bestätigen die Resultate aber die theoretischen Rechnungen recht zufriedenstellend. Offen bleibt noch die Frage, welche Rolle Quanteneffekte in Gestalt einer Interferenz beider Reaktionswege spielen. In der Theorie werden beide Prozesse bislang noch getrennt beschrieben.
MPIK / PH