Elektronenautobahn im Kristall
Stufenkanten auf den Oberflächen von Bruchstücken bilden Leiterbahnen für elektrische Ströme.
Neuartige elektronische Zustände von Materie konnten Forscher der Uni Würzburg in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Polen und der Schweiz in topologisch kristallinen Isolatoren nachweisen. Das zentrale Ergebnis des Teams: Werden kristalline Materialien gespalten, entstehen an den abgespalteten Oberflächen kleine atomar flache Bereiche, die durch Stufenkanten voneinander getrennt sind. Darin bilden sich Leiterbahnen für elektrische Ströme, die mit etwa zehn Nanometern extrem schmal sind und die sich durch eine überraschende Robustheit gegen äußere Störungen auszeichnen. In diesen Leiterbahnen bewegen sich Elektronen mit unterschiedlichem Spin in entgegengesetzte Richtungen – ähnlich einer Autobahn mit separaten Fahrspuren für beide Fahrrichtungen. Das macht die Materialien für technologische Anwendungen in zukünftigen Elektronik-
Abb.: An Stufenkanten topologisch kristalliner Isolatoren bilden sich unter bestimmten Umständen Leiterbahnen. Auf ihnen bewegen sich Elektronen mit unterschiedlichem Spin in entgegengesetzte Richtungen – eine Kehrtwendung ist nicht möglich. (Bild: T. Bathon, P. Sessi & M. Bode, U. Würzburg)
„Topologisch kristalline Isolatoren, kurz TCIs, sind verhältnismäßig einfach herzustellen und heben sich bereits aufgrund ihrer besonderen Kristallstruktur von konventionellen Materialien ab“, erklärt Paolo Sessi von der Uni Würzburg. Was sie außerdem so besonders macht, sind ihre elektronischen Eigenschaften: In topologischen Materialien bedingt die Richtung des Spins die Bewegungsrichtung der Elektronen. Allerdings war bislang unklar, wie die dafür nötigen Leiterbahnen hergestellt werden könnten. Der Zufall brachte die Forscher auf den richtigen Weg: Sie entdeckten, dass beim Spalten des topologisch kristallinen Isolators Blei-
Verantwortlich dafür sind Stufenkanten auf den Oberflächen der Bruchstücke, genauer: die Höhe der jeweiligen Stufenkanten. „Kanten, die eine gerade Anzahl atomarer Ebenen überbrücken, sind völlig unauffällig. Reichen die Kanten allerdings über eine ungerade Anzahl atomarer Ebenen, so entsteht ein etwa zehn Nanometer schmaler Bereich mit den bislang unbekannten elektronischen Leitungsbahneigenschaften“, erklärt Sessi.
Die Kristallstruktur führt zu einer Anordnung der Atome, bei der sich die verschiedenen Elemente wie abwechseln. Dieser Wechsel gilt nicht nur für nebeneinander liegende Atome, sondern auch für darüber und darunter liegende. Zieht sich der Bruch des Kristalls also durch unterschiedliche atomare Schichten, bildet sich dort nicht nur eine Kante. Von oben gesehen kann dieser Kante an unterschiedliche oder an gleiche Atome stoßen – je nachdem, ob eine gerade oder eine ungerade Anzahl von Atomlagen für den Höhenunterschied zwischen den beiden Oberflächen sorgt.
„Berechnungen zeigen, dass dieser Versatz an der Oberfläche tatsächlich für diese neuartigen elektronischen Zustände ursächlich ist“, sagt Sessi. Sie weisen darüber hinaus nach, dass die für topologische Materialien charakteristische spinabhängige Leitungsbahnphänomenologie auch hier vorliegt. Nach Ansicht der Wissenschaftler macht insbesondere diese Eigenschaft die Entdeckung für potenzielle Anwendungen interessant, da derartige Leitungsbahnen einerseits zu geringen Leitungsverlusten führen, andererseits aber auch direkt für die Übermittlung und Verarbeitung von Information im Bereich der Spintronik genutzt werden könnten. Hierzu müssten allerdings noch zahlreiche Fragen beantwortet und Herausforderungen überwunden werden. So sei beispielsweise nicht klar, über welche Distanzen sich Ströme in den neu entdeckten Leiterbahnen transportieren lassen. Auch müssten für die Anwendung in Schaltkreisen Methoden entwickelt werden, mit denen Stufenkanten definierter Höhe entlang vorgegebener Richtungen erzeugt werden können.
JMU / RK