Erdbebenrisiko in Deutschland
Neuer Bebenkatalog beruht auf Messungen und historischen Aufzeichnungen.
Deutschland hat ein neues Kartenwerk zur Erdbebengefährdung. Obwohl die Gefährdung durch Erdbeben in Deutschland relativ gering ist, ist sie keinesfalls vernachlässigbar. Bedeutende Schadenbeben mit Magnituden größer 6 sind innerhalb Deutschlands sowie in unmittelbarer Nachbarschaft immer wieder aufgetreten. Bereits 1981 wurde die erste Erdbebenbaunorm bauaufsichtlich eingeführt. Das neue Kartenwerk ersetzt die vor rund zwanzig Jahren konzipierte, alte und bis jetzt gültige Erdbebenzonierung. Die vorgelegten Karten zeigen, welche Bodenerschütterungen für verschiedene Schwingungsperioden in Deutschland für vorgegebene Wahrscheinlichkeiten zu erwarten sind. Die Zonierung weist anhand eines wesentlich verbesserten Gefährdungsmodells und aktualisierter Datenbestände mit umfassender Einbeziehung aller zu berücksichtigender Unsicherheiten solide und robuste Berechnungen auf.
Abb.: Karte der Erdbebengefährdung für eine mittlere Wiederholungsperiode von 475 Jahren. Dargestellt sind die Mittelwerte der Spektralamplituden der Schwingungungsperioden. Der Gefährdungskarte sind die katalogisierten tektonischen Erdbeben der letzten 1000 Jahre überlagert.
(Bild: G. Grünthal et al.)
Die wichtigste Eingangsgröße dabei ist die Erdbebentätigkeit der letzten eintausend Jahre auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik samt einer Umgebung von mindestens 300 Kilometern. Zur Erarbeitung dieser Datenbasis gehörte das akribische Studium der Quellen vieler dieser historischen Beben. Dabei zeigte sich, dass in frühere Gefährdungsberechnungen falsch beurteilte Ereignisse eingegangen waren: Stürme, plötzliche Bodensenkungen oder Nachrichten entfernter starker Erdbeben, die fälschlicherweise als lokale Erdbeben überliefert wurden. „Überraschenderweise haben wir viele ‚Fake Beben‘ gefunden“ berichtet Gottfried Grünthal. „Mehr als sechzig Prozent der im bisherigen deutschen Erdbebenkatalog aufgeführten Schadenbeben haben in manchen Gebieten nie stattgefunden. Spätere Chronisten oder Autoren verschiedener Erdbebenkataloge haben die Fehler einfach übernommen“, sagt der Bebenforscher.
Die Gefährdungskarten wurden am Deutschen Geoforschungszentrum im Auftrag des Deutschen Instituts für Bautechnik und in enger Abstimmung mit Mitgliedern des entsprechenden DIN-Normenausschusses berechnet. „Die Neueinschätzung wird weitreichende wirtschaftliche Folgen haben“, sagt Fabrice Cotton, Leiter der GFZ-Sektion „Erdbebengefärdung und dynamische Risiken“. Denn die Karten werden Bestandteil des Nationalen Anhangs (NA) der neuen DIN-Norm DIN EN 1998-1/NA werden. Bauherren müssen darauf achten, ihre Gebäude entsprechend den darin beschriebenen Lastannahmen erdbebengerecht auszulegen.
In der Praxis heißt dies, dass die Erdbebenlastannahmen in Form berechneter Bodenbeschleunigungen oberhalb eines Schwellwertes mit einer Überschreitenswahrscheinlichkeit von zehn Prozent innerhalb einer angenommenen Standzeit von fünfzig Jahren dem Konstruktionsentwurf zugrunde zu legen sind. „Weniger sperrig als die Angabe der Überschreitenswahrscheinlichkeit in Prozent innerhalb einer Standzeit ist die Angabe mittlerer Wiederholungsperioden erwarteter Bodenerschütterungen. Diese folgen aus den Gesetzen der Statistik. So ergibt die oben genannte Überschreitenswahrscheinlichkeit eine Wiederholungsperiode von 475 Jahren.“, berichtet Grünthal. Soll die Sicherheit erhöht werden, also die Überschreitenswahrscheinlichkeit geringer sein, werden Karten für höhere Wiederholungsperioden berechnet: so für 975 Jahre und 2475 Jahre. Diesen entsprechen, auf die Standzeit von fünfzig Jahren bezogen, Wahrscheinlichkeiten von fünf oder nur mehr zwei Prozent für das Überschreiten der zugehörigen Bodenerschütterungen.
Neben den in Deutschland und den Nachbargebieten immer wieder auftretenden signifikanten natürlichen, tektonischen Erdbeben werden zudem seismische Ereignisse infolge menschlicher Aktivitäten im Untergrund beobachtet. Auslöser hierfür sind Kohle-, Erz- oder Salzbergbau, Öl- und Gasförderung oder auch Geothermiebohrungen. „Das Auftreten dieser induzierten seismischen Ereignisse ist stark zeitabhängig“, erläutert Grünthal, „Sie verringern sich, können mit dem Abschluss der menschlichen Aktivitäten im Untergrund enden oder werden durch technische Verbesserungen in ihrer Intensität vermindert.“ Das ist einer der Gründe, weshalb die induzierten seismischen Ereignisse nicht in die Berechnungen eingingen.
Grünthal und Kollegen haben in mühevoller Kleinarbeit im Vorfeld des Projektes nicht nur historische Bebenaufzeichnungen ausgewertet, um die Seismizitätsdatenbasis der letzten eintauend Jahre zu verbessern. Er fügt hinzu: „Wir haben in unseren Berechnungen insbesondere die Unsicherheiten in Modellen und Parametern erstmals derart umfänglich im Rahmen einer regionalen Studie einfließen lassen.“ Hinter dem neuen Kartenwerk stecken eine jahrelange Puzzlearbeit mit Quellenstudium, modernste statistische Methoden und Auswerteverfahren von Datenbanken zu Starkbebenaufzeichnungen sowie eine enge Kooperation mit dem Bauingenieurwesen. „Wir haben jetzt noch verlässlichere Gefahreneinschätzungen als bisher, die in deutsche und europäische Baunormen eingehen werden“, sagt Fabrice Cotton.
GFZ / JOL