Extreme Genauigkeit im Myon-Experiment
Bisher genaueste Messung des anomalen magnetischen Moments des Myons gelungen.
Die Myon g-2 Kollaboration hat gestern ihr drittes und abschließendes Ergebnis der Messung des anomalen magnetischen Moments des Myons veröffentlicht. Das Endergebnis stimmt mit den bisher veröffentlichten beiden Resultaten aus den Jahren 2021 und 2023 perfekt überein, zeichnet sich jedoch durch eine wesentlich bessere Genauigkeit von 127 Teilen in einer Milliarde (127 ppb) aus. Damit wurde das ursprüngliche Ziel des Experiments, eine Präzision von 140 Teilen in einer Milliarde zu erreichen, sogar übertroffen. Diese bisher präziseste Messung des anomalen magnetischen Moments des Myons wurde im Rahmen eines Seminars am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab, FNAL) vorgestellt.

Die Arbeitsgruppe um Martin Fertl, der seit 2019 im Bereich der Niederenergieteilchenphysik am Exzellenzcluster Prisma+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz forscht, ist die einzige in Deutschland, die mit experimentellen Beiträgen an der Myon g-2-Kollaboration beteiligt ist. „Dieser lang erwartete Wert wird für viele Jahre die weltweit präziseste Messung des anomalen magnetischen Moments des Myons sein – und den experimentellen Mittelwert festlegen“, so Fertl. „Auf diese enorme Präzisionsleistung können wir sehr stolz sein. Sie gelingt nur gemeinsam in einem großen Team wie der Myon g-2 Kollaboration – Internationalität und viele verschiedene Expertisen von Hochenergie-, Kern-, Laser-, Atom- und BeschleunigerphysikerInnen sind hier der Schlüssel zum Erfolg.“ Trotz der jüngsten Annäherung der theoretischen Vorhersage an den nun gemessenen experimentellen Wert – die den Nachweis neuer Physik mit Hilfe des Myons unwahrscheinlicher macht – ist dies ein Meilenstein bei der Suche nach Erweiterungen des Standardmodells.
Durch die quadratische Kombination der statistischen und systematischen Unsicherheiten mit Unsicherheiten für andere Naturkonstanten ergibt sich 0.001 165 920 705 +- 0.000 000 000 148, was der relativen Unsicherheit von 127 ppb entspricht. Dieses Endergebnis basiert auf Daten aus insgesamt sechs Jahren seit 2018. Es enthält also die neu ausgewerteten Daten aus der vierten, fünften und sechsten Messrunde, die von 2020 bis 2023 aufgenommen wurden, sowie die bereits im Jahr 2021 und 2023 publizierten Daten der ersten drei Messrunden. Der Datensatz der vierten, fünften und sechsten Messrunde umfasst mehr als 72 Prozent der insgesamt 308 Milliarden vermessenen Myonen. Das finale Ergebnis von g-2 konnte mit einer Genauigkeit von insgesamt 127 Teilen in einer Milliarde bestimmt werden – gegenüber 200 Teilen in einer Milliarde, die mit der Auswertung der ersten drei Jahre an Daten erreicht und im August 2023 bekannt gegeben wurde. Insgesamt konnte so schließlich das im Jahr 2012 formulierte Präzisionsziel von 140 Teilen in einer Milliarde sogar weit übertroffen werden.
„Das ist eine großartige experimentelle Leistung“, freut sich René Reimann, Postdoc in der Arbeitsgruppe von Martin Fertl und gemeinsam mit Doktorand Mohammad Ubaidullah Hassan Qureshi maßgeblich an der Analyse des Magnetfelds in dem experimentellen Aufbau beteiligt. „Wir haben viele systematische Effekte auf unabhängige Art und Weise überprüft, sodass mindestens zwei Teams zu dem gleichen Ergebnis kommen. Das hat unser Vertrauen in die angegebenen Unsicherheiten stark erhöht.“
Physikerinnen und Physiker machen theoretische Vorhersagen auf der Grundlage des Standardmodells und vergleichen sie mit experimentellen Ergebnissen. So können sie feststellen, ob die Theorie vollständig ist – oder ob es Physik jenseits des Standardmodells gibt. Das anomale magnetische Moment des Myons ist in dem Zusammenhang eine sehr wichtige Präzisionsgröße, welche einen der vielversprechendsten Tests des Standardmodells ermöglicht. Myonen ähneln den Elektronen ähneln, sind aber etwa 200-mal so schwer sind und leben nur für den millionstel Bruchteil einer Sekunde. Wie das Elektron besitzt das Myon ein magnetisches Moment, eine Art inneren Miniatur-Stabmagnet, der in Gegenwart eines Magnetfelds wie die Achse eines Kreisels präzediert oder wackelt. Die Präzessionsgeschwindigkeit in einem bestimmten Magnetfeld hängt vom magnetischen Moment des Myons ab, dessen charakteristische Stärke durch den Faktor g erfasst wird.
Das Myon g-2 Experiment hat seinen Namen daher, dass das „g“ des Myons immer ein wenig – um etwa 0,1 Prozent – von der einfachen Erwartung g=2 abweicht. Diese Anomalie wird gemeinhin als das anomale magnetische Moment des Myons bezeichnet (a(μ) = (g-2)/2). Die Differenz von g zu 2 – oder „g minus 2“ – ist auf die Wechselwirkungen des Myons mit virtuellen Teilchen in einer Art Quantenschaum zurückzuführen, der es umgibt. Bildlich gesprochen greifen diese Teilchen, die in Sekundenbruchteilen ständig entstehen und wieder zerfallen, wie subatomare Tanzpartner nach der Hand des Myons und verändern dadurch die Art und Weise, wie das Myon mit dem Magnetfeld wechselwirkt. Das Standardmodell umfasst alle bekannten Tanzpartner und sagt voraus, wie der Quantenschaum den Wert von g verändert. Aber es könnte noch mehr geben. Die Physik-Welt ist begeistert von der möglichen Existenz bisher unentdeckter Teilchen, die ebenfalls zum Wert von g-2 beitragen – und das Fenster zur Erforschung neuer Physik öffnen würden.
Das Myon g-2 Experiment vermisst die Rotationsfrequenz der „internen Kompassnadel“ der Myonen in einem Magnetfeld sowie das Magnetfeld selbst und bestimmt daraus das anomale magnetische Moment. Der Myonenstrahl wurde am Myonen-Campus des FNAL speziell für das Experiment erzeugt – und wies eine bisher nicht erreichte Reinheit auf. Zur Durchführung der Messung schickte die Myon g-2 Kollaboration wiederholt diesen Strahl von Myonen in einen supraleitenden magnetischen Speicherring mit einem Durchmesser von vierzehn Metern, wo sie im Durchschnitt etwa tausendmal mit nahezu Lichtgeschwindigkeit umliefen. Mit Hilfe von Detektoren, die den Ring auskleiden, konnten die Forschenden feststellen, wie schnell sich die Kompassnadeln der Myonen relativ zu deren Flugbahnen bewegten.
Die Physikerinnen und Physiker müssen auch die Stärke des Magnetfelds genau messen, um den Wert von g-2 zu bestimmen. Und genau hier liegt die Expertise von Martin Fertl und seiner Arbeitsgruppe: die extrem präzise Vermessung des Magnetfelds im Myonen-Speicherring über die gesamte mehrjährige Messzeit. Bereits an seiner früheren Wirkungsstätte leitete Martin Fertl dazu die Entwicklung einer Anordnung hochempfindlicher Magnetometer, die auf dem Prinzip der gepulsten Kernspinresonanz basieren. Mehrere hundert dieser Messköpfe sind in den Wänden der die Myonen umgebenden Vakuumkammern installiert. Weitere 17 Messköpfe umrunden ferngesteuert den Speicherring, um das angelegte Magnetfeld genauestens zu vermessen. „Dazu mussten wir unzählige Effekte untersuchen und auch verstehen. Beispielsweise haben wir in zusätzlichen Messkampagnen entdeckt, dass der Magnet noch Tage nach dem Einschalten sein Magnetfeld minimal verändert“, berichtet René Reimann.
Für das Fermilab-Experiment wurde ein Speicherring wiederverwendet, der ursprünglich für das Vorgängerexperiment am Brookhaven National Laboratory gebaut wurde, das 2001 abgeschlossen wurde. Im Jahr 2013 transportierte die Myon g-2 Kollaboration den Speicherring 3.200 Meilen von Long Island, New York, nach Batavia, Illinois. Nach vierjährigen Aufbauarbeiten startete die Datennahme im Jahr 2018. Seither wurde das Experiment ständig weiter verbessert. Am 9. Juli 2023 schließlich schaltete die Kollaboration den Myonenstrahl ab und beendete die Datenerfassung mit Myonen nach sechs Jahren. Es folgte eine einjährige Messkampagne zur endgültigen Charakterisierung des Magnetfelds. Im Ergebnis wurde das Ziel erreicht, zur statistischen Auswertung einen Datensatz zu sammeln, der mehr als 21-mal so groß ist wie der Datensatz des Vorgängerexperiments in Brookhaven.
Physikerinnen und Physiker können die Auswirkungen der bekannten Tanzpartner des Standardmodells auf das anomale magnetische Moment des Myons mit unglaublicher Präzision berechnen. Die Berechnungen berücksichtigen die elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkungen. Wenn das Standardmodell korrekt ist, sollte diese ultrapräzise Vorhersage mit den experimentellen Messungen übereinstimmen. Die Berechnung der Vorhersage des Standardmodells für das Myon g-2 ist eine große Herausforderung. Die Beiträge der starken Wechselwirkung, die durch die Quarks hervorgerufen werden, stehen dabei seit vielen Jahren besonders im Fokus. In der „Myon g-2 Theorie Initiative“ haben sich im Jahr 2017 daher weit über 100 Physikerinnen und Physiker weltweit zusammengeschlossen, um sich dieser Herausforderung gemeinsam anzunehmen, unter ihnen auch Hartmut Wittig, theoretischer Physiker und zugleich Sprecher des Exzellenzclusters Prisma+, der als Mitglied des Steering Committee die Mainzer Aktivitäten im Bereich der Theorie-Vorhersage vertritt.
Im Jahr 2020 gab die Initiative die beste Vorhersage des Standardmodells für das Myon g-2 bekannt, die zu diesem Zeitpunkt verfügbar war: Sie nutzt die datengetriebene Methode, bei der Messdaten aus Experimenten in die Berechnung einfließen, da die gängigen Rechenmethoden bei der starken Wechselwirkung im Allgemeinen versagen. Der so berechnete Wert wich vom ersten experimentellen Ergebnis des Myon g-2 Experiments deutlich ab – ein starker Hinweis auf neue Physik jenseits des Standardmodells, der für großes Aufsehen sorgte. „Seit 2021 verdichteten sich dann aber die Hinweise, dass der theoretische Wert noch einmal angepasst werden muss“, blickt Hartmut Wittig zurück. „Denn inzwischen waren Rechnungen basierend auf der fundamentalen Theorie der Quantenchromodynamik (QCD) möglich geworden, die ohne experimentelle Daten auskommen, aber groß angelegte numerische Rechnungen auf Supercomputern erfordern. Diese Methode – genannt Gitter-QCD – lieferte einen deutlich höheren Wert für das anomale magnetische Moment des Myons, der näher am experimentellen Resultat lag.“
Kürzlich nun hat die „Myon g-2 Theorie Initiative“ eine neue offizielle Vorhersage veröffentlicht: Sie basiert auf den seit 2020 deutlich verfeinerten Gitter-QCD-Rechnungen. Die datengetriebene Methode findet hingegen keine Berücksichtigung mehr, weil seither starke Inkonsistenzen in den experimentellen Input-Größen beobachtet wurden. „Wir sind also auf Gitterrechnungen umgeschwenkt und haben infolgedessen den Wert der Standardmodell-Vorhersage nach oben korrigiert. Unsere neue Bezugsgröße ist damit in guter Übereinstimmung mit den nun publizierten Messergebnissen, sodass das Standardmodell möglicherweise den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen hat“, sagt Hartmut Wittig. „Und doch gibt uns das Myon nach wie vor Rätsel auf: Wir müssen vor allem verstehen, warum die datengetriebene Methode und Gitter-QCD-Rechnungen derart unterschiedliche Ergebnisse liefern. Und wir müssen auch bedenken, dass die Unsicherheit der Standardmodell-Vorhersage circa viermal größer ist als beim experimentellen Wert. Um eine echte Vergleichbarkeit herzustellen, müssen wir unsere Rechenmethoden weiter verfeinern, um letztlich eine dem Experiment ähnliche Präzision zu erreichen. Egal wie man es betrachtet: Die unterschiedlichen Ergebnisse der theoretischen Vorhersagen geben weiterhin Rätsel auf. Wenn diese gelöst und die Präzision der theoretischen Vorhersage mit der des Experiments vergleichbar ist, stellt sich die Frage nach der Gültigkeit des Standardmodells neu.“
JGU Mainz / JOL
Weitere Infos
- Originalveröffentlichungen
R. Aliberti et al.: The anomalous magnetic moment of the muon in the Standard Model: an update, arXiv:2505.21476 [hep-ph] - D. P. Aguillard et al.: Measurement of the Positive Muon Anomalous Magnetic Moment to 127 ppb, arXiv:2506.03069 [hep-ex]
- Myon g-2 Experiment, Fermilab, Batavia, USA
- Exzellenzcluster PRISMA+ , Johannes Gutenberg-Universität Mainz