29.01.2016

Findige Astronomie in der Antike

Schon im alten Babylon nutzten Astronomen abstrakte geometrische Methoden zur Berechnung der Jupiterbahn.

Bereits babylonische Astronomen berechneten die Bewegung des Jupiters entlang seiner Bahn mit geometrischen Operationen. Das zeigt eine Analyse des Wissenschafts­historikers Mathieu Ossendrijver von der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Exzellenz­cluster Topoi von drei bekannten und zwei bisher unveröffentlichten Keil­schrift­tafeln aus dem British Museum. Die Tafeln stammen aus der Zeit zwischen 350 und 50 v. Chr.

Abb.: Keilschrifttafel mit Trapez-Berechnungen: Die Fläche rechts erlaubt die Berechnung der Distanz, die Jupiter in 60 Tagen zurücklegt. (Bild: M. Ossendrijver)

Wissenschaftshistoriker hatten bislang angenommen, dass geometrische Berechnungen dieser Art erstmals im 13. Jahrhundert vorgenommen wurden. Zudem war man von einer rein arithmetischen Astronomie im alten Babylon ausgegangen. „Die Neu­interpretation zeigt, dass die babylonischen Astronomen zumindest gelegentlich auch geometrische Rechen­methoden anwandten“, sagt Mathieu Ossendrijver.

Auf vier der Tontafeln wird der Abstand, den Jupiter am Himmel entlang seiner Bahn zurücklegt, als Fläche einer Figur berechnet, die den Geschwindigkeits­verlauf des Planeten in der Zeit darstellt. Keine der Tafeln enthalte Zeichnungen, aber aus den Texten gehe hervor, dass die Figur, deren Fläche berechnet wird, ein Trapez sei, erklärt Mathieu Ossendrijver. Zwei dieser sogenannten Trapez-Texte waren schon seit 1955 bekannt, aber ihre Bedeutung blieb unklar – auch noch, nachdem in den vergangenen Jahren zwei weitere Tafeln mit dieser Operation entdeckt wurden.

Eine Ursache dafür war der schlechte Zustand der drei bis fünf Zentimeter großen Tafeln, die Ende des 19. Jahrhunderts von Laien in Babylon nahe dem Haupt­tempel Esagila ausgegraben worden waren. Ein weiterer Grund war, dass die Berechnungen keinem Planeten zugeordnet werden konnten. Die Neuinterpretation der Trapez-Texte wurde nun durch den Fund einer fünften, nahezu intakten, bisher unpublizierten Keil­schrift­tafel möglich. Den Hinweis auf die Tafel im British Museum verdankt Mathieu Ossendrijver seinem Wiener Kollegen, dem emeritierten Professor für Alt­orientalistik Hermann Hunger, der 2014 als Gastwissenschaftler am Exzellenz­cluster Topoi forschte. Er überließ ihm eine alte Aufnahme der Tafel im British Museum.

Diese neue Tafel erwähnt zwar keine Trapezfigur, enthält aber eine mathematisch völlig äquivalente Berechnung zu den bereits bekannten Tafeln und die Berechnung kann eindeutig dem Planeten Jupiter zugeordnet werden. Und so ließen sich auch die bisher als undeutbar geltenden Tafeln entschlüsseln.

Auf allen fünf Keilschrifttafeln wird die tägliche Positions­veränderung des Jupiters entlang seiner Bahn insgesamt beschrieben. Die Maßeinheit ist Grad; gemessen wird ein Zeitraum, der die ersten 60 Tage umfasst, nachdem Jupiter als Morgenstern am Himmel sichtbar geworden ist. „Die zentrale Erkenntnis der neuen Keil­schrift­tafel ohne geometrische Figur sei, dass Jupiters Geschwindigkeit innerhalb dieser 60 Tage linear abnehme, erklärt Mathieu Ossendrijver. Durch diese lineare Abnahme entstehe eine trapez­förmige Figur, wenn man die Geschwindigkeit gegen die Zeit auftrage.

Es sei diese Trapezfigur, deren Fläche auf den anderen vier Tafeln berechnet werde, sagt der Wissenschafts­historiker. Die Fläche dieser Figur werde explizit als Distanz bezeichnet, die Jupiter in 60 Tagen zurücklege. Außerdem werde die Zeit, in der Jupiter die Hälfte dieser Weg­strecke zurücklegt, ausgerechnet, indem das Trapez in zwei kleinere Trapeze zerlegt werde, die jeweils eine gleichgroßen Fläche haben.

„Diese Berechnungen antizipieren die Nutzung ähnlicher Techniken durch europäische Gelehrte; sie wurden jedoch mindestens vierzehn Jahrhunderte früher durchgeführt“, sagt Ossendrijver. Den sogenannten Oxford Calculators, einer Gruppe scholastischer Mathematiker, die im 14. Jahrhundert am Merton College in Oxford arbeiteten, wird das sogenannte „Merton'sche Theorem für die mittlere Geschwindigkeit“ zugeschrieben. Dieses Theorem beschreibt die Distanz, die ein gleichförmig gebremster Körper zurücklegt, entsprechend der modernen Formel S = t × (v) / 2, wobei u und v die Anfangs- und die End­geschwindigkeit sind, S die Strecke und t die Zeit.

Im gleichen Jahrhundert entdeckte Nicole Oresme, Bischof, scholastischer Philosoph und Mathmatiker in Paris, graphische Methoden, um diese Formel zu beweisen: Er berechnete S als die Fläche eines Trapezes mit der Länge t und den Höhen u und v. Die babylonischen Trapez­berechnungen könnten, so Ossendrijver, als Beispiele der gleichen Vorgehens­weise gesehen werden.

Bislang war zudem angenommen worden, dass die Astronomen im antiken Babylon nur arithmetische Methoden verwandten und sich keine geometrischen Methoden aneigneten, obwohl diese in der babylonischen Mathematik seit 1800 v. Chr. geläufig waren. Auch griechische Astronomen in der Zeit von 350 v. Chr. bis 150 n. Chr. waren für den Einsatz geometrischer Methoden bekannt. Die babylonischen Trapez­berechnungen unterscheiden sich allerdings von den geometrischen Berechnungen ihrer griechischen Fachkollegen, da die babylonischen Trapez­figuren keine Konfigurationen in einem realen Raum beschreiben, sondern dadurch zustande kommen, dass man die Geschwindig­keit des Planeten gegen die Zeit aufträgt. Im Gegensatz zu den geometrischen Konstruktionen der griechischen Astronomen existieren die babylonischen Trapez­figuren in einem abstrakten mathematischen Raum, definiert durch Zeit auf der x-Achse und Geschwindigkeit auf der y-Achse.

HU Berlin / DE

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