Flüssiger Stoßdämpfer
Kolloide verfestigen sich unter starken und plötzlichen Krafteinwirkungen.
Auf den ersten Blick ähneln Kolloide homogenen Flüssigkeiten wie beispielsweise Milch oder Blutplasma. Tatsächlich sind sie jedoch Suspensionen aus festen Partikeln. Einige Kolloide haben erstaunliche Eigenschaften: Sie werden unter Krafteinwirkung fest und ihre Oberflächen absorbieren die auf sie einwirkenden Kräfte. Diese Besonderheit eröffnet eine ganze Reihe interessanter Anwendungsmöglichkeiten, von der kugelsicheren Weste bis zum Schutzschild für Satelliten. Wissenschaftler der Technischen Hochschule in Zürich ETHZ haben entdeckt, dass sich das Verhalten der Kolloide unter extremer Krafteinwirkung verändern kann. Um die Eigenschaften dieser Kolloide besser zu verstehen, haben sie ein neues Modell entwickelt.
Abb.: Schematische Darstellung der Ausbreitung einer Stoßwelle vom rot markierten Zentrum durch ein Kolloid. (Bild: ETHZ)
Lucio Isa und sein Team an der ETH Zürich stellten zweidimensionale, kolloidale Kristalle her. Die winzigen Siliziumkügelchen hatten einen Durchmesser von wenigen Mikrometern und schwebten in einem Gemisch aus Wasser und Glyzerin. Danach untersuchten die Forscher, wie dieses Kolloid Kräfte absorbierte. Dabei haben sie festgestellt, dass sich bei Kolloiden mit mikrometerkleinen Teilchen die Art und Weise der Absorption in Abhängigkeit von der Intensität und der Geschwindigkeit der einwirkenden Kraft verändert. Unterhalb eines bestimmten Schwellenwerts ist die Viskosität der Flüssigkeit entscheidend. „Stellen Sie sich vor, wie die winzigen Glaskügelchen in der Flüssigkeit schweben“, sagt Lucio Isa. "Sobald eine Kraft einwirkt, fangen sie an, sich zu bewegen. Dabei gerät auch die sie umgebende Flüssigkeit in Bewegung, und zwar je nach Viskosität schneller oder langsamer. Diese Bewegung des Fluids sorgt dafür, dass sich das Ganze verfestigt."
Ist die einwirkende Kraft allerdings sehr stark, kann sich die Flüssigkeit zwischen den Kügelchen nicht mehr bewegen und diese verformen sich. „Dann wird die Absorption der Kräfte vor allem durch die physikalischen Eigenschaften der Kügelchen bestimmt, weshalb sich die üblichen Gleichungen nicht anwenden lassen“, erklärt Lucio Isa. Damit die Teilchen zum entscheidenden Faktor werden, muss die einwirkende Kraft extrem stark sein – wie beispielsweise beim Aufprall einer Gewehrkugel oder eines Mikrometeoriten, die Satelliten im All mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern pro Sekunde treffen können.
Derart intensive Kräfte im Labor zu erzeugen, sei ziemlich schwierig gewesen, erklärt Lucio Isa. Die Forscher überzogen zu diesem Zweck einen kleinen Teil der Siliziumkügelchen mit Gold. Wird das Gold mit einem gepulsten Laser bestrahlt, verdampft es und erzeugt eine Stoßwelle, die das Kolloid in ähnlicher Weise verändert wie der Aufprall eines Mikrometeoriten. Die Wissenschaftler dokumentierten ihr Experiment mit Highspeed-Mikroskop-Kameras. „Ihre speziellen Eigenschaften machen die Kolloide zu faszinierenden Forschungsobjekten,“, so Lucio Isa, „die beispielsweise die Entwicklung neuartiger Schilde, die Satelliten gegen aufprallende Mikrometeoriten schützen, ermöglichen könnten.“
SNF / JOL