15.01.2021

Flüssiges Glas

Ellipsoide Kolloide liefern neue Erkenntnisse zum bislang ungeklärten Glasübergang.

Obwohl Glas ein allgegen­wärtiges Material ist, das wir täglich verwenden, ist seine tatsächliche Natur nach wie vor ein großes Rätsel und die wissen­schaftliche Erforschung seiner chemischen und physikalischen Eigenschaften noch längst nicht abgeschlossen. In der Chemie und Physik ist der Begriff Glas ein wandelbares Konzept: Es umfasst die Substanz, die wir als Fensterglas kennen, kann sich aber auch auf eine Reihe anderer Materialien mit Eigen­schaften beziehen, die glas­ähnliches Verhalten aufweisen, darunter zum Beispiel Metalle, Kunststoffe, Proteine und sogar biologische Zellen.

Abb.: Illustration der Position und Orien­tierung von Teilchen in Clustern...
Abb.: Illustration der Position und Orien­tierung von Teilchen in Clustern eines flüssigen Glases. (Bild: AG Zumbusch & AG Fuchs)

Wenn ein Material vom flüssigen in den festen Zustand übergeht, reihen sich die Moleküle normalerweise auf und bilden ein kristallines Gitter. Anders bei Glas: Hier sind die Moleküle regelrecht festgefroren bevor die Kristalli­sation stattfindet. Dieser seltsame und ungeordnete Zustand ist für Gläser in verschiedenen Systemen charakteristisch und die Wissenschaft versucht immer noch zu verstehen, wie genau dieser meta­stabile Zustand entsteht. Forscher um Chemiker Andreas Zumbusch und Physiker Matthias Fuchs von der Universität Konstanz haben dem Glasrätsel nun eine weitere Komplexitätsebene hinzugefügt. Anhand eines Modell­systems mit Suspensionen aus maßge­schneiderten ellip­soiden Kolloiden entdeckten sie einen neuen Materiezustand, flüssiges Glas, in dem sich einzelne Teilchen zwar bewegen, aber nicht drehen können – ein komplexes Verhalten, das bisher in Gläsern nicht beobachtet wurde. 

Kolloidale Sus­pensionen sind Gemische oder Flüssigkeiten, die feste Teilchen enthalten, die mit Größen von einem Mikrometer oder mehr größer als Atome oder Moleküle sind und sich daher gut für die Untersuchung mit dem Lichtmikroskop eignen. Sie werden gern von Forschern, die Glas­übergänge untersuchen, verwendet, weil sie viele der Phänomene aufweisen, die auch in anderen glasbildenden Materialien auftreten. Bislang bauten die meisten Experimente mit kolloidalen Sus­pensionen auf sphärischen Kolloiden auf. Der Großteil natürlicher und technischer Systeme besteht allerdings aus nicht-sphärischen Partikeln. Mit Hilfe der Polymerchemie stellte das Team um Andreas Zumbusch kleine Kunststoff­partikel her, streckte und kühlte sie, bis sie ihre ellipsoide Form erreichten und brachte sie dann in ein geeignetes Lösungs­mittel. „Aufgrund ihrer besonderen Form haben unsere Teilchen – im Gegensatz zu sphärischen Teilchen – eine Ausrichtung. Dies führt zu völlig neuen und bisher nicht untersuchten Arten von komplexem Verhalten“, erklärt Zumbusch.

Anschließend veränderten die Forscher die Partikel­konzentration in den Suspensionen und verfolgten mit Hilfe der Konfokal­mikroskopie sowohl die Translations- als auch die Rotations­bewegung der Partikel. „Bei bestimmten Teilchendichten friert die Orientierung ein, während die Translations­bewegung bestehen bleibt, was zu glasartigen Zuständen führt, bei denen die Teilchen sich in Clustern zusammen­ballen und lokale Strukturen mit ähnlicher Ausrichtung bilden“, sagt Zumbusch. Das, was die Forscher als flüssiges Glas bezeichnen, entsteht dadurch, dass sich diese Cluster gegenseitig behindern und charak­teristische räumliche Korrelationen mit großer Reichweite bilden. Diese verhindern die Entstehung von flüssigen Kristallen, was der allgemein geordnete Aggregat­zustand wäre, den man im Rahmen der Thermo­dynamik erwarten würde.

Was die Forscher beobachteten, waren tatsächlich zwei konkur­rierende Glas­übergänge – eine reguläre Phasen­umwandlung und eine Nicht-Gleichgewichts­phasenumwandlung – die miteinander interagierten. „Das ist aus theoretischer Sicht unglaublich interessant“, sagt Matthias Fuchs. „Unsere Experimente liefern die Art von Beweisen für das Zusammenspiel zwischen entscheidenden Fluk­tuationen und glasartiger Verfestigung, nach denen die wissen­schaftliche Gemeinschaft seit geraumer Zeit gesucht hat.“ Flüssiges Glas war nämlich zwanzig Jahre lang eine theoretische Vermutung geblieben. Die Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass es eine ähnliche Dynamik auch in anderen glas­bildenden Systemen geben könnte und könnten somit dazu beitragen, das Verhalten komplexer Systeme und Moleküle vom ganz Kleinen bis zum ganz Großen zu verstehen. Sie haben möglicherweise auch Auswirkungen auf die Entwicklung von flüssig­kristallinen Elementen.

U. Konstanz / JOL

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