Fluktuationstheoreme gelten auch für offene quantenmechanische Systeme
Augsburger NIM-Physiker schaffen mit entsprechendem Nachweis wichtige Grundlage für nanotechnologische Anwendungen in den Lebenswissenschaften und in der Informationsverarbeitung
Augsburger NIM-Physiker schaffen mit entsprechendem Nachweis wichtige Grundlage für nanotechnologische Anwendungen in den Lebenswissenschaften und in der Informationsverarbeitung.
Augsburg/München/PS/KPP - Den Augsburger Physikern Peter Hänggi, Peter Talkner und Michele Campisi (Lehrstuhl für Theoretische Physik I) ist der Nachweis gelungen, dass Fluktuationstheoreme - das sind exakte mathematische Relationen, die es erlauben, von Messungen im Nicht-Gleichgewichtszustand eindeutig auf den Gleichgewichtszustand zu schließen - auch für offene quantenmechanische Systeme Gültigkeit haben. Bisher war diese Gültigkeit nur für makroskopische Systeme belegt sowie - im Nanobereich - nur für geschlossene, von ihrer Umwelt also isolierte quantenmechanische Systeme. Die in den renommierten "Physical Review Letters" jetzt veröffentlichte Entdeckung der AG Hänggi erweitert schlagartig und entscheidend die Aussagekraft von Untersuchungen an winzigen Systemen, etwa an einzelnen Molekülen. "Wenn wir ein Molekül, um es untersuchen zu können, schütteln und es sich dadurch insofern in keiner Weise 'gerührt' zeigt, als es es uns erlaubt, mit Fluktuationstheoremen auf seinen 'ungeschüttelten' Gleichgewichtszustand zu schließen, dann ist das von enormer Bedeutung für zukünftige Anwendungen in der Nanotechnologie und für das tiefere Verständnis biologischer Vorgänge, die quantenmechanische Aspekte aufweisen", erläutert Hänggi, der mit seiner Arbeitsgruppe im Rahmen der "Nanosystems Initiative Munich" (NIM) forscht. Dieses Exzellenzcluster beschäftigt sich mit Nanosystemen in Medizin und Informationsverarbeitung.
Messungen an einem physikalischen System verändern dieses zumeist, es gerät durch die Messung "aus dem Gleichgewicht". Das gilt zum Beispiel für elektronische Schaltungen. Ohne einen Strom durch sie zu schicken, kann man sie nicht untersuchen. Sie sind dann aber nicht mehr in Ruhe oder anders ausgedrückt: nicht mehr im Gleichgewichtszustand. Physiker können trotzdem für solche Systeme aus den Messungen im Nicht-Gleichgewichtszustand eindeutig auf das System im Gleichgewichtszustand schließen. Dazu verwenden sie spezielle mathematische Beziehungen, die "Fluktuationstheoreme".
Dass diese Fluktuationstheoreme für makroskopische Systeme gelten, ist schon seit Längerem bewiesen. Sind die untersuchten Systeme aber nur wenige Nanometer (Millionstel Millimeter) groß, dann gilt die herkömmliche "klassische" Physik nicht mehr. Es treten dann nämlich quantenmechanische Phänomene auf, etwa der Tunneleffekt, der es ermöglicht, dass Teilchen quasi "durch die Wand gehen". Für quantenmechanische Systeme konnte die Gültigkeit von Fluktuationstheoremen bisher nicht generell nachgewiesen werden. Lediglich für den rein theoretischen Spezialfall von quantenmechanischen Systemen, die keine Verbindung zu ihrer Umgebung haben, wurden sie als gültig betrachtet. Den Augsburger Physikern Peter Hänggi, Peter Talkner und Michele Campisi ist es nun gelungen, die Gültigkeit von Fluktuationstheoremen auch für "offene", also stark mit ihrer Umgebung wechselwirkende quantenmechanische Systeme nachzuweisen.
Dieser Nachweis schafft eine wichtige Grundlage für die Erforschung vielfältiger Systeme in der Größenordnung weniger Nanometer. Das betrifft so unterschiedliche Bereiche wie künstliche biologische Maschinen oder isolierte Einzelmoleküle in der medizinischen Diagnostik. Diese lassen sich zum Beispiel durch simples Schütteln mit "optischen Pinzetten" erforschen. Dass sie dabei aus dem Gleichgewicht gebracht werden, spielt dank der nunmehr nachgewiesenen Gültigkeit der Fluktuationstheoreme keine Rolle mehr. Aber auch die Entwicklung und Untersuchung quantenmechanischer Systeme zur Informationsverarbeitung - Stichwort Quantencomputer - kann von der Augsburger Entdeckung profitieren.
Der richtungweisende Nachweis der Gültigkeit von Fluktuationstheoremen auch bei offenen quantenmechanischen Systemen gelang Hänggi und seinen Kollegen bei ihren Forschungen im Rahmen des Exzellenzclusters "Nanosystems Initiative Munich" (NIM). Aufgabe und Ziel von NIM ist es, funktionale Nanostrukturen für Anwendungen in der Informationsverarbeitung und in den Lebenswissenschaften zu entwickeln und zu erforschen.
Universität Augsburg
Weitere Infos:
- Originalveröffentlichung:
Michele Campisi, Peter Talkner, and Peter Hänggi: Fluctuation Theorem for Arbitrary Open Quantum Systems. Phys. Rev. Lett. 102, 210401 (2009)
http://physics.aps.org/pdf/10.1103/PhysRevLett.102.210401.pdf - Peter Hänggi, Lehrstuhl für Theoretische Physik I
http://www.physik.uni-augsburg.de/theo1 - Peter Sonntag, Nanosystems Initiative Munich (NIM)
http://www.nano-initiative-munich.de/
AL