17.09.2019 • Biophysik

Form ist Funktion

Flüssigkeitsähnliches Verhalten als Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen.

Eine besondere Stärke und gleichzeitig faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungs­fähigkeit an sich verändernde Umwelt­bedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch der menschliche Knochen. Dieser wird laufend durch An- und Abbau kleiner Knochen­pakete erneuert. Dieser Umbau­prozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzt Knochen die Fähigkeit sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Als Reaktion auf veränderte mechanische Belastungen, etwa durch regelmäßige Sport­aktivitäten, ändert der Knochen seine Struktur und passt seine innere Form an. Unter welchen Bedingungen sich Knochen­gewebe best­möglich züchten lässt, haben jetzt John Dunlop von der Uni Salzburg und sein Team untersucht. Dabei zeigte sich, dass sich wachsendes Knochen­gewebe auf langen Zeitskalen wie eine viskose Flüssigkeit verhält und dadurch Formen mit minimaler Oberfläche annimmt. Dieses Verhalten der Zellen bestimmt die Form des Gewebes, wenn es auf ein Gerüst aufwächst.

Abb.: Phasenkontrastbilder eines auf einer Kapillarbrücke gewachsenen Gewebes....
Abb.: Phasenkontrastbilder eines auf einer Kapillarbrücke gewachsenen Gewebes. (Bild: S. Ehrig, MPI KG)

Biologische Strukturen werden von Zellen erzeugt, die viel kleiner sind als die entstehende Form. Die Zellen sind sogar dazu in der Lage die Krümmung einer Oberfläche zu ertasten, die viel größer ist als sie selbst. Doch wie gelingt es den Zellen, komplexe makro­skopische Formen zu erzeugen oder bei der Knochen­heilung die ursprüngliche Form wieder­herzu­stellen? „Eine partielle Antwort auf diese Frage könnte die Erkenntnis aus dieser Arbeit sein, dass Zellen Oberflächen­energie für die Form­bildung nutzen, auf ähnliche Weise wie komplexe Gebilde auf Grund der Oberflächen­energie aus Seifen­blasen entstehen können.“ sagt Peter Fratzl vom MPI für Kolloid- und Grenz­flächen­forschung, der an der Studie beteiligt war.

Die Forscher konnten zeigen, dass Gewebe, welches auf gekrümmten Oberflächen wuchs, Formen mit Außen­grenzen konstanter mittlerer Krümmung entwickelte. Diese ähneln sehr stark Formen von Flüssigkeits­tropfen, die eine minimale Oberfläche annehmen. Als Substrate für das Zell- und Gewebe­wachstum dienten gekrümmte Oberflächen aus Kunststoff. Dabei wurde ein flüssiges Polymer verwendet, das sich bei hohen Temperaturen verfestigt und mit dem Substrat mit unter­schied­lichen Geometrien hergestellt wurde, auf denen die Zellen wachsen und neues Gewebe bilden konnten. Die Menge des gebildeten Gewebes hing dabei von der Form des Substrats ab. Dabei fiel auf, dass auf stark konkaven Oberflächen mehr Gewebe gebildet wurde, was auf einen mechanisch induzierten biologischen Rück­kopplungs­mechanismus hinweist.

Durch Hemmung der Zellkontraktilität konnte nachgewiesen werden, dass aktive Zellkräfte notwendig sind, um ausreichende Oberflächenspannungen für das flüssigkeits­ähnliche Verhalten und das Wachstum des Gewebes zu erzeugen. „Das legt nahe, dass die mechanische Signal­über­tragung zwischen Zellen und ihrer physischen Umgebung zusammen mit der kontinuier­lichen Reorganisation von Zellen und Matrix ein Schlüssel­prinzip für die Entstehung der Gewebeform ist.“ unterstreicht Team-Mitglied Sebastian Ehrig.

Mithilfe der Lichtblattmikroskopie konnten Einblicke in die räumliche Gewebe­struktur gewonnen werden, wobei eine weitere bemerkens­werte Entdeckung gemacht wurde: Die Zellen ordneten sich zu ausgedehnten chiralen Strukturen an, die sich spiralförmig um die Kapillar­brücken schlängelten. Ähnliche Strukturen findet man auch in Osteonen, den kleinsten Funktions­einheiten des Knochens. Ein Osteon entsteht, indem sich knochen­bildende Zellen konzentrisch in vier bis zwanzig Schichten um ein Blutgefäß lagern, einmauern und zu Lamellen­knochen werden.

Die Studie legt nahe, dass flüssigkeits­ähnliches Gewebe­verhalten ein Schlüssel­prinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen ist. Das könnte weitreichende Konsequenzen haben im Hinblick auf das Verständnis von Heilungs­prozessen und der Organ­ent­wicklung und auch für medizinische Anwendungen wie der Entwicklung von Implantaten relevant sein.

MPIKG / RK

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