Form ist Funktion
Flüssigkeitsähnliches Verhalten als Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen.
Eine besondere Stärke und gleichzeitig faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch der menschliche Knochen. Dieser wird laufend durch An- und Abbau kleiner Knochenpakete erneuert. Dieser Umbauprozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzt Knochen die Fähigkeit sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Als Reaktion auf veränderte mechanische Belastungen, etwa durch regelmäßige Sportaktivitäten, ändert der Knochen seine Struktur und passt seine innere Form an. Unter welchen Bedingungen sich Knochengewebe bestmöglich züchten lässt, haben jetzt John Dunlop von der Uni Salzburg und sein Team untersucht. Dabei zeigte sich, dass sich wachsendes Knochengewebe auf langen Zeitskalen wie eine viskose Flüssigkeit verhält und dadurch Formen mit minimaler Oberfläche annimmt. Dieses Verhalten der Zellen bestimmt die Form des Gewebes, wenn es auf ein Gerüst aufwächst.
Biologische Strukturen werden von Zellen erzeugt, die viel kleiner sind als die entstehende Form. Die Zellen sind sogar dazu in der Lage die Krümmung einer Oberfläche zu ertasten, die viel größer ist als sie selbst. Doch wie gelingt es den Zellen, komplexe makroskopische Formen zu erzeugen oder bei der Knochenheilung die ursprüngliche Form wiederherzustellen? „Eine partielle Antwort auf diese Frage könnte die Erkenntnis aus dieser Arbeit sein, dass Zellen Oberflächenenergie für die Formbildung nutzen, auf ähnliche Weise wie komplexe Gebilde auf Grund der Oberflächenenergie aus Seifenblasen entstehen können.“ sagt Peter Fratzl vom MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung, der an der Studie beteiligt war.
Die Forscher konnten zeigen, dass Gewebe, welches auf gekrümmten Oberflächen wuchs, Formen mit Außengrenzen konstanter mittlerer Krümmung entwickelte. Diese ähneln sehr stark Formen von Flüssigkeitstropfen, die eine minimale Oberfläche annehmen. Als Substrate für das Zell- und Gewebewachstum dienten gekrümmte Oberflächen aus Kunststoff. Dabei wurde ein flüssiges Polymer verwendet, das sich bei hohen Temperaturen verfestigt und mit dem Substrat mit unterschiedlichen Geometrien hergestellt wurde, auf denen die Zellen wachsen und neues Gewebe bilden konnten. Die Menge des gebildeten Gewebes hing dabei von der Form des Substrats ab. Dabei fiel auf, dass auf stark konkaven Oberflächen mehr Gewebe gebildet wurde, was auf einen mechanisch induzierten biologischen Rückkopplungsmechanismus hinweist.
Durch Hemmung der Zellkontraktilität konnte nachgewiesen werden, dass aktive Zellkräfte notwendig sind, um ausreichende Oberflächenspannungen für das flüssigkeitsähnliche Verhalten und das Wachstum des Gewebes zu erzeugen. „Das legt nahe, dass die mechanische Signalübertragung zwischen Zellen und ihrer physischen Umgebung zusammen mit der kontinuierlichen Reorganisation von Zellen und Matrix ein Schlüsselprinzip für die Entstehung der Gewebeform ist.“ unterstreicht Team-
Mithilfe der Lichtblattmikroskopie konnten Einblicke in die räumliche Gewebestruktur gewonnen werden, wobei eine weitere bemerkenswerte Entdeckung gemacht wurde: Die Zellen ordneten sich zu ausgedehnten chiralen Strukturen an, die sich spiralförmig um die Kapillarbrücken schlängelten. Ähnliche Strukturen findet man auch in Osteonen, den kleinsten Funktionseinheiten des Knochens. Ein Osteon entsteht, indem sich knochenbildende Zellen konzentrisch in vier bis zwanzig Schichten um ein Blutgefäß lagern, einmauern und zu Lamellenknochen werden.
Die Studie legt nahe, dass flüssigkeitsähnliches Gewebeverhalten ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen ist. Das könnte weitreichende Konsequenzen haben im Hinblick auf das Verständnis von Heilungsprozessen und der Organentwicklung und auch für medizinische Anwendungen wie der Entwicklung von Implantaten relevant sein.
MPIKG / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
S. Ehrig et al.: Surface tension determines tissue shape and growth kinetics, Sci. Adv. 5, eaav9394 (2019); DOI: 10.1126/sciadv.aav9394 - AG Morphophysik (J. Dunlop), Biophysik, Dept. Chemie und Physik der Materialien Universität Salzburg, Österreich
- Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung (P. Fratzl), Potsdam