Fraktale Elektronen und ein neues Maßsystem
Jahresrückblick Atom-, Molekül-, Quanten- und Festkörperphysik 2018.
Im vergangenen Jahr gab es nicht nur eine ganze Reihe wichtiger technologischer Entwicklungen, sondern auch etliche Tests fundamentaler physikalischer Eigenschaften. So konnte eine Rekordmessung den Wert der Feinstrukturkonstante auf zehn Nachkommastellen festlegen. Das ist nicht zuletzt in Hinsicht auf die Revision des Einheitensystems von Bedeutung, bei dem nun Naturkonstanten und keine menschengemachten Objekte mehr als grundlegende Maßstäbe gelten. Auch die Gravitationskonstante konnte genauer bestimmt werden als je zuvor, sogar anhand von zwei unterschiedlichen Experimenten. Mit Hilfe eines Verbunds von Atomuhren ließ sich auch das Prinzip der lokalen Positionsinvarianz fünffach genauer als bei früheren Messungen bestimmen – eine wichtige Grundlage der Relativitätstheorie. Aber auch die fundamentale Grenze für Wärmeproduktion bei der Quanteninformationsverarbeitung ließ sich experimentell bestätigen. Dieses Quanten-Landauer-Limit ist etwa beim Bau von Quantencomputern von Bedeutung, denn es beschreibt die mindestens notwendige Entropieerhöhung bei Quantenkalkulationen.
Einen anderen Rekord konnten Wissenschaftler mit ihrer Variante einer Sisyphos-Kühlung erzielen. Dadurch konnten sie Moleküle auf die Rekordtemperatur von nur noch zwanzig Mikrokelvin herunterkühlen sowie auch bei der Dichte Höchstwerte erzielen. Das ermöglicht neue Abbildungsverfahren für einzelne Moleküle und fundamentale Tests der Quantenphysik. An Bord der Forschungsrakete Maius-1 gelang Forscher erstmals auch die Erzeugung eines Bose-Einstein-Kondensats im All. Mit solchen Kondensaten sollen künftig etwa an Bord der Internationalen Raumstation ebenfalls fundamentale physikalische Tests möglich werden.
Topologisch und exotisch
Der Nobelpreis für die Erforschung topologischer Materialien 2016 an David Thouless, Duncan Haldane und Michael Kosterlitz hat diesem Gebiet einen gehörigen Schub gegeben. Immer neue exotische Materialien mit besonderen Eigenschaften sind in den letzten Jahren entdeckt worden. So konnten mechanische Modelle aus rotierenden Kreiseln den Weg zur Fertigung topologischer Isolatoren aus amorphen Materialien ebnen. Ein topologischer Supraleiter wiederum weist aufgrund seiner ungewöhnlichen Bandstruktur die Möglichkeit auf, Majorana-Zustände zu realisieren. Damit ließen sich in Zukunft besonders robuste topologische Majorana-Quantenbits entwickeln. Ein anderes Material, eine Heusler-Legierung, zeigte hingegen einen großen anomalen Nernst-Effekt und besaß die elektronische Struktur eine magnetischen Weyl-Semimetalls, was unter anderem für thermoelektrische Elemente interessant ist. In einem anderen Material ließen sich Weyl-Fermionen durch starke Laserpulse erzeugen.
Einen außergewöhnlichen Effekt hatte auch die geschickte atomare Manipulation elektronischer Zustände auf einer Kupferoberfläche: Durch Einsperren in einem dreifach verschachtelten Sierpinski-Dreieck nahm die Wellenfunktion der Elektronen eine fraktale Dimension an, was zu völlig neuartigen atomaren Schaltungen führen könnte. Außerdem ließen sich spezielle Quantenspinzustände, sogenannte Bethe-Strings, über achtzig Jahre nach ihrer theoretischen Untersuchung erstmals experimentell erstellen. Eine exotische Quantenflüssigkeit mit räumlich fixierten elektrischen Dipolen in einem ungeordneten und verschränkten Zustand ließ sich ebenfalls zum ersten Mal nachweisen. Und ein kaltes Gas verwandelte sich durch Beleuchtung mit Mikrowellen in einen Supraleiter. Die Oszillation seiner Cooper-Paare entsprach dabei den Quanteneigenschaften des Higgs-Bosons.
Ungewöhnliche Materialien
Ein bisschen weniger exotisch – rein quantentheoretisch gesehen –, doch immer noch sehr ungewöhnlich verhielten sich einige andere Materialien. So besitzen Zinksulfid-Kristalle ein außergewöhnliches Plastizitätsverhalten: Im Dunkeln sind sie plastisch, im Hellen werden sie spröde. Das liegt an der Beweglichkeit von Gitterfehlern im Kristall. Kohlenstoff-Nanofasern zählen zu den stärksten Faserwerkstoffen überhaupt. Dank eines neuen Produktionsverfahrens lassen sich nun extrem feste Bündel aus Nanoröhrchen herstellen. Eine andere Variante von Kohlenstoff ist zwar ebenfalls für ihre Festigkeit berühmt, allerdings nicht unbedingt für ihre Flexibilität: Doch nun gelang es Forschern, elastische Nanonadeln aus künstlichem Diamant herzustellen, die unbeschadet große Deformationen überstehen können. Noch teurer als Diamant, aber sehr viel poröser ist ein metallorganischer Festkörper, der am Computer entworfen wurde und das höchste spezifische Porenvolumen von allen bekannten kristallinen Netzwerkmaterialien aufweist. Und während man bei Kristallen vornehmlich an kleinere oder größere quaderförmige Objekte denkt, so könnte sich dies dank eines ausgeklügelten Prozesses ändern: Inzwischen lassen sich auch hauchdünne Metallfolien als Einkristalle herstellen.
Die Kontrolle über die Materiezustände auf atomarer und molekularer Ebene erweitert auch die technologischen Möglichkeiten immer weiter. Ein Van-der-Waals-Kristall konnte nun als Isotopensieb dienen, denn Deuteronen dringen in seine Schichtstapel besser ein als Protonen. Und eine ferroelektrische Keramik zeigte nach Samarium-Dotierung einen riesigen Piezo-Koeffizienten. Offenbar war die dadurch hervorgerufene Unordnung für den Superpiezoeffekt verantwortlich – eine Erkenntnis, mit der sich in Zukunft wohl auch andere Piezoelemente verbessern lassen. Wasser hat eine große Dielektrizitätskonstante, doch lässt sich dieser Wert durch Nanostrukturen massiv beeinflussen: In Nanometer engen Spalten sank dieser Wert bis auf ein Vierzigstel ab – eine elektrisch tote Wasserschicht.
Neue Technologien
Die gezielte Manipulation der Materie beschränkt sich inzwischen nicht mehr auf einzelne Atome: Sogar einzelne Elektronen lassen sich mit einem Rasterkraftmikroskop wie mit einem Gabelstapler hin- und hertransportieren. Noch ist die Lebensdauer dieser Elektronenzustände begrenzt, aber damit wollen die Forscher künftig Elektronenmuster auf eine Oberfläche schreiben. Ein Rubidium-basiertes Komagnetometer soll als Gyroskop dank seiner hohen Präzision die Suche nach neuer Physik erleichtern. Und ein photonischer Chip macht es möglich, komplexe molekulare Quantendynamiken mit Hilfe von Photonen zu simulieren. Umgekehrt hat eine andere Forschergruppe die spontane Emission bosonischer Atome genutzt, um damit die Abstrahlung von Photonen nachzustellen. Denn ultrakalte Atome, die in optischen Gittern eingesperrt sind, ermöglichen die Simulation solcher Prozesse unter genau einstellbaren Idealbedingungen.
In der Quanten- und Atomphysik finden sich auch zunehmend Methoden wieder, die aus der Optik und Photonik adaptiert wurden. So konnten Wissenschaftler erstmals auch das Ghost Imaging mit einem Elektronenstrahl durchführen. Der Clou dabei lag in der Ausnutzung strukturierter Beleuchtungsmuster, wodurch ganz neue Einsatzmöglichkeiten für derartige Abbildungsverfahren möglich werden. Die chemische Reaktion einzelner Atome konnten Forscher studieren, indem sie zwei Alkaliatome mit einer optischen Pinzette festhielten und dann miteinander wechselwirken ließen. Das ermöglicht das direkte Studium chemischer Prozesse auf der kleinstmöglichen Skala. Und sehr viel enger lässt sich Licht nicht einfangen: In einer Heterostruktur wurden die Lichtwellen als zweidimensionale Plasmonen in einer monoatomaren Schicht eingesperrt.
Bausteine für das Quantencomputing
Die Ausnutzung topologischer Zustände soll künftig die Robustheit von Quantenprozessoren erhöhen. Es geht aber auch umgekehrt: Mit Hilfe eines D-Wave-Quantenprozessors haben Forscher einen exotischen Phasenübergang in einem zweidimensionalen Spinsystem untersucht, den magnetischen Kosterlitz-Thouless-Phasenübergang. Ebenfalls auf einem solchen Prozessor ließ sich ein dreidimensionales kubisches Spinsystem aus insgesamt 512 Spins simulieren. Damit lässt sich unter anderem der Übergang von einem Antiferromagneten zu einem Spinglas untersuchen. Und ein Atombaukasten für das Quantencomputing könnte in Zukunft ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Wissenschaftler konnten Dutzende von Atomen in einem dreidimensionalen Lichtgitter platzieren und für kurze Zeit an ihrem Ort festhalten, wobei die Atome untereinander wechselwirken konnten.
Für kommende Quantencomputer mit einer Vielzahl von Qubits ist der Schutz gegen äußere Störeffekte wichtig, die den Rechenprozess schnell unmöglich machen. Hier könnten sich eventuell Spin-Qubits mit Quadrupol-Kopplung als besonders robust erweisen. Will man Qubits miteinander verknüpfen, dann bieten sich Stickstoff-Fehlstellen-Zentren in Diamant an, die besonders langlebig sind. Solche ließen sich nun auf Knopfdruck miteinander verschränken. Quanteninformationen wollen aber nicht nur geschrieben und verarbeitet, sondern auch ausgelesen werden, was mitunter ein langwieriger Prozess sein kann. Man kann aber selbst hochdimensional verschränkte Quantensysteme mit nur zwei Messungen auslesen anstatt mit vielen – eine deutliche Steigerung der Effizienz. Die Zertifizierung von Quantencomputern ist ebenfalls ein Gebiet, das sich in Entwicklung befindet. Ein Bell-inspiriertes Protokoll soll das korrekte Funktionieren dieser Geräte gewährleisten.
Graphen wird supraleitend
Auch bei den zweidimensionalen Materialien ist 2018 einiges passiert. So erwies sich mehrlagiges Stanen überraschenderweise als Supraleiter. Stanen ist ebenso wie Graphen ein hexagonales zweidimensionales Material, besteht allerdings aus Zinn und nicht aus Kohlenstoff. Aber auch doppellagiges Graphen ist ein Supraleiter, wenn seine Schichten in einem magischen Winkel aufeinander liegen. Damit könnte man vielleicht sogar supraleitende Qubits bauen. In tiefgekühltem Graphen können sich auch langlebige Plasmonen halten. Das wiederum könnte zu leistungsfähigen Bauelementen für die Nanophotonik führen.
Man kann Graphen strecken, etwa indem man es auf einer Unterlage aus einem Material mit einem etwas größeren Atomabstand wie Kupfer wachsen lässt. Dadurch ändern sich die elektronischen Eigenschaften. Das Wachsen von Graphen wiederum konnten Forscher mit einem schnellen Rastertunnelmikroskop beobachten. Dadurch lässt sich der Prozess etwa durch Zugabe mobiler Adatome beschleunigen. Als dichtes Gitter ist selbst einlagiges Graphen beinahe undurchlässig für Atome oder Moleküle, doch können einzelne Atome es durchdringen. Bei der Beleuchtung mit weißem Licht erhöhte sich diese Rate jedoch: Dieser Photoeffekt beschleunigte den Protonentransport um den Faktor zehn. Das ermöglicht den Einsatz einer solchen Zelle sowohl als Trennmembran in Brennstoffzellen als auch als Photodetektor oder für die Trennung von Wasserstoffisotopen.
Dirk Eidemüller
Weitere Infos
- R. Scharf: Quantenkommunikation, Quantentests und Zeitkristalle – Jahresrückblick Atom-, Molekül-, Quanten- und Festkörperphysik 2017, pro-physik.de, 28. Dezember 2017
- R. Scharf: Antiwasserstoff, Quantensimulation und Topologie – Jahresrückblick Atom-, Molekül-, Quanten- und Festkörperphysik 2016, pro-physik.de, 30. Dezember 2016