29.03.2017

Grenzen des Kristallwachstums

Mermin-Wagner-Fluktuationen fünfzig Jahre nach Aufstellung des Theorems erstmals experimentell nachgewiesen.

Ein Kristall besteht aus perfekt angeordneten Teilchen, aus einer lückenlos symmetrischen Atom­struktur – dies besagt die klassische Definition aus der Physik. Das sogenannte Mermin-Wagner-Theorem aus dem Jahr 1966 brach mit dieser Ansicht: Es besagt, dass es in ein­dimensionalen und zwei­dimensionalen Anordnungen von Atomen (zum Beispiel eine atomare Kette oder eine Membran) auf langen Distanzen keine perfekt symmetrische Anordnung der Teilchen geben könne. Fünfzig Jahre später gelang es nun Konstanzer Physikern um Peter Keim, erstmalig das Mermin-Wagner-Theorem experimentell sowie in Computer­simulationen nachzuweisen – zeitgleich mit zwei internationalen Arbeits­gruppen aus Japan und den USA.

Abb.: Zweidimensionaler Kristall aus einer Monolage von Kolloidpartikeln. Wachsen die Abweichungen mit der Systemgröße über alle Grenzen, handelt es sich um Mermin-Wagner-Fluktuationen. In einem dreidimensionalen Kristall blieben die Abstände immer gleich groß, unabhängig von der Größe des Kristalls. (Bild: U. Konstanz)

Anhand eines Modellsystems aus Kolloiden konnte Peter Keim nachweisen, dass in niedrig­dimensionalen Systemen langsam, aber stetig anwachsende Fluktuationen in den Abständen der Teilchen auftreten: Die Teilchen scheren aus dem perfekten Raster aus, sind mal dichter beieinander, mal weiter auseinander. Eine Kristall­bildung über lange Distanzen hinweg ist in niedrig­dimensionalen Materialien somit nicht möglich.

„Das Mermin-Wagner-Theorem ist oft derart interpretiert worden, dass es in zwei­dimensionalen Systemen überhaupt keine Kristalle geben dürfe. Das ist falsch: Vielmehr wachsen in zweidimensionalen Systemen langwellige Dichte­fluktuationen logarithmisch an und zerstören die Ordnung nur auf langen Distanzen“, schildert Peter Keim. In kleinen Systemen von nur wenigen hundert Teilchen kann eine Kristall­bildung also sehr wohl eintreten. Je größer die Systeme aber werden, desto stärker wachsen die Unregel­mäßigkeiten in den Abständen der Teilchen an, was eine Kristall­bildung auf langen Distanzen schließlich verhindert. Peter Keim gelang es ferner, die Wachstums­rate dieser Fluktuationen zu vermessen: Es handelt sich dabei um ein logarithmisches Wachstum, die langsamste Form eines monotonen Anstiegs. „Die Störung der Ordnung hat aber nicht nur einen strukturellen Aspekt, sondern hinterlässt auch Spuren in der Dynamik der Teilchen“, führt Keim weiter aus.

Das Mermin-Wagner-Theorem gehört zu den Standard­fragestellungen der statistischen Physik und wurde erst jüngst in Zusammenhang mit der Nobelpreis­verleihung in Physik erneut diskutiert: Michael Kosterlitz, der Nobel­preis­träger des Jahres 2016, hatte in einem Kommentar veröffentlicht, wie er zusammen mit David Thouless auf die Idee kam, topologische Phasen­übergänge in niedrig­dimensionalen Materialien zu untersuchen: Es sei der Widerspruch gewesen zwischen einerseits dem Mermin-Wagner-Theorem, das die Existenz von perfekten niedrig­dimensionalen Kristallen verbietet, sowie andererseits Computer­simulationen, die nichts­destotrotz eine Kristallisation in zwei­dimensionalen Systemen andeuteten. Dieser vermeintliche Wider­spruch lässt sich nun mit dem Nachweis von Peter Keim und seinem Forschungs­team auflösen: Auf kurzen Distanzen ist eine Kristall­bildung sehr wohl möglich, auf langen Distanzen nicht.

Das Konstanzer Projekt bündelt Daten aus vier Generationen von Doktor­arbeiten. Der direkte Nachweis der Mermin-Wagner-Fluktuationen erfolgte anhand der Dynamik in ungeordneten, amorphen, glasartigen zwei­dimensionalen Fest­körpern – ebenso wie im Fall der nahezu zeitgleich erschienenen Arbeiten aus Japan und den USA. Für zwei­dimensionale Kristalle steht der direkte experimentelle Nachweis hingegen noch aus.

U. Konstanz / DE

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