Gummi auf Eis
Kontaktmechanik-Theorie sagt Reibungsverhalten nahezu perfekt voraus.
Gummi ist ein kompliziertes Material. „Es ist nicht elastisch, sondern viskoelastisch“, erklärt Bo Persson vom FZ Jülich. Viskoelastische Materialien vereinigen Merkmale von Flüssigkeiten und Festkörpern. Das zeigt sich insbesondere in der Art, in der sie auf Druckeinwirkung reagieren. Gummi besteht aus langen, untereinander vernetzten Molekülketten. Bei äußerer Belastung entflechten und strecken sich diese, und kehren dann wieder in ihre Ausgangsform zurück. Gummi hat gewissermaßen eine interne Dämpfung. Durch eine Art Reibung zwischen den Molekülen wird die Energie in dem Material verteilt. Wie Gummi auf Belastungen reagiert, ist zeit- und temperaturabhängig. Bei schneller Krafteinwirkung oder bei sehr niedrigen Temperaturen wird Gummi hart wie Plastik.
Abb.: Bo Persson beschäftigt sich seit beinahe zwanzig Jahren damit, wie Gummi mit anderen Materialien interagiert. (Bild: FZ Jülich)
Gummimischungen für Autoreifen enthalten außerdem Füllstoffe wie Ruß oder Silikate, die sie erst widerstandsfähig machen. „Die nur Nanometer großen Füllteilchen bilden ein Netzwerk, wie ein Skelett in einem menschlichen Körper“, so Persson. „Belastet man ein solches Material nur wenig, wird dieses Netzwerk elastisch verformt. Bei starken Belastungen bricht es auseinander, und das Material wird schlagartig viel weicher.“ Die Art und Weise wie Gummi mit anderen Materialien interagiert, ist deshalb sehr komplex und schwer vorherzusagen. Persson beschäftigt sich seit beinahe zwanzig Jahren mit dem Thema und hat eine umfängliche Theorie zur Reibung von Gummi und der zugrundeliegenden Kontaktmechanik entwickelt, die er kontinuierlich erweitert und verfeinert. Mit Modellen, die nach Perssons Theorie erstellt werden, sind Voraussagen über das Verhalten von Gummi bei unterschiedlichen Bedingungen möglich – auch für ungetestete Szenarien.
Perssons Theorie hat nun ein Forscherteam der TU Wien bestätigt. In Zusammenarbeit mit Hankook Tire untersuchten die Wissenschaftler die Reibung von Gummi auf Eis experimentell. Sie testeten drei verschiedene Gummimischungen für Allwetter- und Winterreifen. Kleine Blöcke dieser Materialien zogen sie über vier verschiedene Eisoberflächen, die sie speziell für das Experiment hergestellt hatten. Die Rauheit der Eisflächen wurde zuvor präzise mit einem Laserstrahl vermessen. Sie bestimmten dann die Reibung zwischen Gummi und Eis für Bedingungen, die typisch für Autoreifen im Winter auf eisiger Straße sind – bei vier Umgebungstemperaturen zwischen minus 13 und minus 5 Grad Celsius und drei verschiedenen Druckbelastungen, die denen auf Reifen eines Pkw entsprachen. Die Geschwindigkeit, mit der sie die Gummiblöcke über das Eis zogen, war immer dieselbe – 65 Zentimeter pro Sekunde, typisch für eine ABS-
Ihre Ergebnisse analysierten die Forscher mithilfe von Perssons Modell. Laut seiner Theorie dominieren zwei unterschiedliche Beiträge die Reibung von Gummi an einer Oberfläche: die Verformung des Gummis durch Unebenheiten der Oberfläche – der viskoelastische Beitrag – und Scherkräfte, die parallel zur Kontaktfläche der beiden Materialien wirken – der adhäsive Beitrag. „Beide hängen ab von einer Vielzahl von Einzelfaktoren, die sich zum Teil gegenseitig beeinflussen“, erläutert Persson. „Druck, Temperatur, Geschwindigkeit, Dauer des Kontakts, Rauheit der Eisfläche, Komposition und Elastizität der Gummimischung und andere Faktoren bestimmen, wie genau Eis und Gummi aufeinander einwirken.“
Ein wichtiges Element der Theorie ist die tatsächliche Kontaktfläche zwischen Eis und Gummi. Wie groß diese genau ist, lässt sich nicht leicht bestimmen. Denn sowohl Gummi als auch Eis haben keine perfekt glatte Oberfläche, auch wenn sie auf den ersten Blick so erscheinen. „Näher betrachtet zeigen sich kleinste Unebenheiten unterschiedlicher Größe und Tiefe, manche messen Bruchteile von Millimetern, andere nur ein paar Atomlagen“, so Persson. Das bedeutet, dass sich die beiden Oberflächen nur an wenigen Punkten wirklich berühren: Die tatsächliche Kontaktfläche beträgt nur einen Bruchteil der Gesamtfläche. Abhängig vom Druck, mit dem die beiden Oberflächen zusammengepresst werden, und von der Geschwindigkeit, mit der sie sich übereinander bewegen, können sich kleinere Unebenheiten abschleifen und die Hohlräume zwischen ihnen füllen – die Kontaktfläche wird größer. Wie groß dieser Effekt ist, hängt von der Gummimischung ab, doch auch die Umgebungstemperatur ist ein entscheidender Faktor.
Die Temperatureffekte sind ebenso komplex. Abhängig von Druck und Geschwindigkeit entsteht an den Kontaktpunkten Reibungswärme, oft nur für Mikrosekunden. Gibt es viele dieser Hotspots und dauert der Reibungsvorgang an, dann kann sich graduell der gesamte Gummiblock erwärmen. Diese Wärme wiederum kann in das Eis vordringen und es aufweichen oder sogar zur Bildung eines dünnen Schmelzwasserfilms führen. Ob das passiert, hängt jedoch wieder von der Umgebungstemperatur ab. Für Straßenbeläge wie Asphalt ist bei normalen Geschwindigkeiten der adhäsive Beitrag zur Reibung sehr wichtig. Doch ein solcher Wasserfilm, selbst wenn er nur ein paar Nanometer dick ist, reduziert die Scherkräfte in diesem Bereich so stark, dass ihr Anteil praktisch vernachlässigt werden kann.
All diese komplexen Vorgänge auf mikroskopischer und molekularer Ebene werden in Perssons Theorie berücksichtigt. Die Daten der Wiener Wissenschaftler entsprachen den Vorhersagen des Modells beinahe perfekt, bis hin zur unterschiedlichen Druckabhängigkeit der Reibung für die einzelnen Gummimischungen. Bo Persson ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis. „Das legt nahe, dass meine Theorie die tatsächlichen Vorgänge akkurat beschreibt“, freut sich Persson.
FZJ / RK