07.04.2016

Gummi auf Eis

Kontaktmechanik-Theorie sagt Reibungs­ver­halten nahe­zu per­fekt voraus.

Gummi ist ein kompliziertes Material. „Es ist nicht elastisch, sondern visko­elastisch“, erklärt Bo Persson vom FZ Jülich. Visko­elastische Materi­alien verei­nigen Merk­male von Flüssig­keiten und Fest­körpern. Das zeigt sich insbesondere in der Art, in der sie auf Druck­ein­wirkung reagieren. Gummi besteht aus langen, unter­ein­ander ver­netzten Molekül­ketten. Bei äußerer Belastung ent­flechten und strecken sich diese, und kehren dann wieder in ihre Ausgangs­form zurück. Gummi hat gewisser­maßen eine interne Dämpfung. Durch eine Art Reibung zwischen den Mole­külen wird die Energie in dem Material verteilt. Wie Gummi auf Belas­tungen reagiert, ist zeit- und tempe­ratur­ab­hängig. Bei schneller Kraft­ein­wirkung oder bei sehr niedrigen Tempe­ra­turen wird Gummi hart wie Plastik.

Abb.: Bo Persson beschäftigt sich seit beinahe zwanzig Jahren damit, wie Gummi mit anderen Materi­alien inter­agiert. (Bild: FZ Jülich)

Gummimischungen für Autoreifen enthalten außerdem Füll­stoffe wie Ruß oder Sili­kate, die sie erst wider­stands­fähig machen. „Die nur Nano­meter großen Füll­teilchen bilden ein Netz­werk, wie ein Skelett in einem mensch­lichen Körper“, so Persson. „Belastet man ein solches Material nur wenig, wird dieses Netz­werk elastisch verformt. Bei starken Belastungen bricht es aus­ein­ander, und das Material wird schlag­artig viel weicher.“ Die Art und Weise wie Gummi mit anderen Materialien inter­agiert, ist des­halb sehr komplex und schwer vor­her­zu­sagen. Persson beschäftigt sich seit beinahe zwanzig Jahren mit dem Thema und hat eine um­fäng­liche Theorie zur Reibung von Gummi und der zugrunde­liegenden Kontakt­mechanik ent­wickelt, die er konti­nu­ier­lich erweitert und ver­feinert. Mit Modellen, die nach Perssons Theorie erstellt werden, sind Voraus­sagen über das Ver­halten von Gummi bei unter­schiedlichen Bedingungen möglich – auch für unge­testete Szenarien.

Perssons Theorie hat nun ein Forscherteam der TU Wien bestätigt. In Zusammen­arbeit mit Hankook Tire unter­suchten die Wissen­schaftler die Reibung von Gummi auf Eis experi­mentell. Sie testeten drei verschiedene Gummimi­schungen für All­wetter- und Winter­reifen. Kleine Blöcke dieser Materialien zogen sie über vier ver­schiedene Eis­ober­flächen, die sie speziell für das Experi­ment herge­stellt hatten. Die Rau­heit der Eis­flächen wurde zuvor präzise mit einem Laser­strahl ver­messen. Sie bestimmten dann die Reibung zwischen Gummi und Eis für Bedingungen, die typisch für Auto­reifen im Winter auf eisiger Straße sind – bei vier Umgebungs­tempe­ra­turen zwischen minus 13 und minus 5 Grad Celsius und drei ver­schiedenen Druck­be­lastungen, die denen auf Reifen eines Pkw ent­sprachen. Die Geschwin­digkeit, mit der sie die Gummi­blöcke über das Eis zogen, war immer die­selbe – 65 Zenti­meter pro Sekunde, typisch für eine ABS-Bremsung.

Ihre Ergebnisse analysierten die Forscher mit­hilfe von Perssons Modell. Laut seiner Theorie domi­nieren zwei unter­schiedliche Beiträge die Reibung von Gummi an einer Ober­fläche: die Ver­formung des Gummis durch Un­eben­heiten der Ober­fläche – der visko­elastische Beitrag – und Scher­kräfte, die parallel zur Kontakt­fläche der beiden Materi­alien wirken – der adhäsive Beitrag. „Beide hängen ab von einer Viel­zahl von Einzel­faktoren, die sich zum Teil gegen­seitig be­ein­flussen“, erläutert Persson. „Druck, Temperatur, Geschwin­dig­keit, Dauer des Kontakts, Rau­heit der Eis­fläche, Kompo­sition und Elas­ti­zität der Gummi­mischung und andere Faktoren be­stimmen, wie genau Eis und Gummi auf­ein­ander ein­wirken.“

Ein wichtiges Element der Theorie ist die tat­säch­liche Kontakt­fläche zwischen Eis und Gummi. Wie groß diese genau ist, lässt sich nicht leicht be­stimmen. Denn sowohl Gummi als auch Eis haben keine perfekt glatte Ober­fläche, auch wenn sie auf den ersten Blick so er­scheinen. „Näher betrachtet zeigen sich kleinste Un­eben­heiten unter­schied­licher Größe und Tiefe, manche messen Bruch­teile von Milli­metern, andere nur ein paar Atom­lagen“, so Persson. Das bedeutet, dass sich die beiden Ober­flächen nur an wenigen Punkten wirk­lich be­rühren: Die tat­säch­liche Kontakt­fläche beträgt nur einen Bruch­teil der Gesamt­fläche. Ab­hängig vom Druck, mit dem die beiden Ober­flächen zusammen­ge­presst werden, und von der Geschwin­dig­keit, mit der sie sich über­ein­ander bewegen, können sich kleinere Un­eben­heiten ab­schleifen und die Hohl­räume zwischen ihnen füllen – die Kontakt­fläche wird größer. Wie groß dieser Effekt ist, hängt von der Gummi­mischung ab, doch auch die Um­gebungs­temperatur ist ein ent­schei­dender Faktor.

Die Temperatureffekte sind ebenso komplex. Abhängig von Druck und Geschwin­dig­keit ent­steht an den Kontakt­punkten Reibungs­wärme, oft nur für Mikro­sekunden. Gibt es viele dieser Hot­spots und dauert der Reibungs­vor­gang an, dann kann sich graduell der gesamte Gummi­block erwärmen. Diese Wärme wiederum kann in das Eis vor­dringen und es auf­weichen oder sogar zur Bildung eines dünnen Schmelz­wasser­films führen. Ob das passiert, hängt jedoch wieder von der Um­gebungs­tempe­ratur ab. Für Straßen­beläge wie Asphalt ist bei normalen Ge­schwin­dig­keiten der adhäsive Beitrag zur Reibung sehr wichtig. Doch ein solcher Wasser­film, selbst wenn er nur ein paar Nano­meter dick ist, redu­ziert die Scher­kräfte in diesem Bereich so stark, dass ihr Anteil prak­tisch ver­nach­lässigt werden kann.

All diese komplexen Vorgänge auf mikro­skopischer und mole­ku­larer Ebene werden in Perssons Theorie berück­sichtigt. Die Daten der Wiener Wissen­schaftler ent­sprachen den Vor­her­sagen des Modells beinahe perfekt, bis hin zur unter­schied­lichen Druck­ab­hängig­keit der Reibung für die einzelnen Gummi­mischungen. Bo Persson ist sehr zu­frieden mit dem Er­gebnis. „Das legt nahe, dass meine Theorie die tat­säch­lichen Vorgänge akkurat be­schreibt“, freut sich Persson.

FZJ / RK

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