Heimat fern im All
Mögliche Ursprungssysteme von Oumuamua identifiziert.
Die Entdeckung des interstellaren Objekts, das heute als "Oumuamua" bekannt ist, im Oktober 2017 war eine Premiere: Zum ersten Mal konnten Astronomen ein interstellares Objekt beobachten, das unser Sonnensystem besucht. Leider wurde der außergewöhnliche Besucher erst entdeckt, als das Objekt sich anschickte, unsere Sonnensystem wieder zu verlassen, aber die Astronomen konnten immerhin noch bodengebundene und Weltraumteleskope verwenden, um die Bewegung des Objekts zu vermessen.
Abb.: Künstlerische Darstellung von Oumuamua. Das Objekt sieht entweder so langgestreckt aus wie in diesem Bild oder aber ist eine Art flacher Pfannkuchen. (Bild: ESO / M. Kornmesser)
Jetzt ist es einer Gruppe von Astronomen unter der Leitung von Coryn Bailer-Jones gelungen, die Bahn von Oumuamua über Millionen Jahre zurückzuverfolgen und vier Kandidaten für das Ursprungssystem des Objekts zu identifizieren. Frühere Studien hatten sich an ähnlichen Rekonstruktionen der Herkunft von Oumuamua versucht, aber keine plausiblen Kandidaten gefunden.
Den früheren Studien fehlte insbesondere eine entscheidende Information: Im Juni 2018 hatte eine Gruppe unter der Leitung des ESA-Astronomen Marco Micheli gezeigt, dass die Umlaufbahn von Oumuamua im Sonnensystem nicht die eines Objekts im freien Fall ist, d.h. eines Objekts, das sich ausschließlich unter dem Einfluss der Schwerkraft bewegt. Stattdessen trat eine zusätzliche Beschleunigung auf, während sich das Objekt in der Nähe der Sonne befand. Oumuamua dürfte in entscheidender Hinsicht einem Kometen ähneln: das Objekt besteht zum Teil aus Eis, das bei ausreichender Erwärmung durch Sonnenlicht Gas produziert. Das ausströmende Gas wiederum erteilt Oumuamua eine kleine Beschleunigung, ähnlich wie ein sehr schwacher Raketenantrieb.
Erst wenn man diesen Effekt angemessen berücksichtigt, kann man die Bahn des Objekts zuverlässig zurückverfolgen. Als ersten Schritt kann man dann rekonstruieren, aus welcher Richtung und mit welcher Geschwindigkeit das Objekt überhaupt in unser Sonnensystem eingetreten ist. Solch eine realistische Rekonstruktion ist Ausgangspunkt der neuen Studie von Bailer-Jones und seinen Kollegen.
Um die Bahn von Oumuamua zurückzuverfolgen, sind noch weitere Informationen nötig: Was ist mit den Sternen, denen es auf dem Weg begegnet ist, und ihrer kombinierten Schwerkraft, die die Flugbahn des Objekts beeinflusst haben wird? Für diesen Teil ihrer Rekonstruktion nutzte Bailer-Jones die Daten, welche die ESA-Mission Gaia im April dieses Jahres veröffentlicht hatte. Mit diesen Daten ist Bailer-Jones sehr vertraut: Er leitet eine jener Gruppen, die sich um die Aufbereitung der Gaia-Daten für die wissenschaftliche Gemeinschaft kümmern.
Der Datensatz Gaia Data Release 2 (DR2) enthält präzise Informationen über Positionen, Bewegungen am Himmel und Parallaxe für 1,3 Milliarden Sterne. Für sieben Millionen der Sterne stellt DR2 zusätzlich Informationen über die Radialgeschwindigkeit des Sterns zur Verfügung, also über denjenigen Anteil seiner Bewegung, die den Stern direkt auf uns zu beziehungsweise von uns weg führt. Mit Hilfe der astronomischen Datenbank Simbad nahmen die Astronomen noch weitere 220.000 Sterne in ihre Studie auf, deren Radialgeschwindigkeit in jener Datenbank enthalten ist.
Als nächstes betrachteten die Astronomen ein vereinfachtes Szenario, das davon ausgeht, dass sich sowohl Oumuamua als auch alle Sterne in den letzten Millionen Jahren entlang gerader Linien und mit konstanter Geschwindigkeit bewegt haben. Aus diesem Szenario wählten sie rund 4500 Sterne aus, die vielversprechende Kandidaten für eine engere Begegnung mit Oumuamua waren. Für diese Sterne wurde dann eine genauere Rechnung durchgeführt und zurückverfolgt, wie sich Oumuamua und die betreffenden Sterne im Gravitationspotenzial unserer Milchstraßengalaxie („geglättetes Potenzial“) bewegt haben.
Verschiedene Studien hatten bereits gezeigt, dass Oumuamua vermutlich während der Phase der Planetenentstehung aus dem System seines Heimatsterns ausgestoßen wurde. Zu jener Zeit gab es zahlreiche den Stern umkreisende kleine Objekte (Planetesimale), von denen eines durch die Schwerkraft eines der Riesenplanten des Systems herausgeschleudert worden sein dürfte, um anschließend solo durch das Weltall zu treiben.
Der Heimatstern des Objekts sollte sich anhand von zwei Eigenschaften identifizieren lassen. Zum einen sollte uns die Rückverfolgung der Umlaufbahn von Oumuamua direkt zurück zum Heimatstern führen, oder zumindest sehr nahe an ihm vorbei. Darüber hinaus sollte die Relativgeschwindigkeit von Oumuamua und seinem Heimatstern zu diesem Zeitpunkt vergleichsweise gering sein; Objekte werden typischerweise nicht mit hoher Geschwindigkeit aus einem Planetensystem herauskatapultiert.
Bailer-Jones und seine Kollegen fanden vier Sterne, welche diese Kriterien näherungsweise erfüllen. Bei allen vieren handelt es sich um Zwergsterne. Derjenige, der Oumuamua vor etwas mehr als einer Million Jahren am nächsten kam, ist der rötliche Zwergstern HIP 3757. Oumuamuas Bahn verläuft innerhalb von knapp zwei Lichtjahren an diesem Stern vorbei – angesichts der Unsicherheiten der Bahnbestimmung durchaus damit vereinbar, dass Oumuamua aus dem betreffenden Planetensystem stammt (falls jener Stern denn eines besitzt). Die vergleichsweise große Relativgeschwindigkeit (rund 25 Kilometer pro Sekunde) macht es jedoch unwahrscheinlich, dass dies die Heimat von Oumuamua ist.
An dem nächsten Kandidaten, HD 292249, einem der Sonne ähnlichen Stern, wäre Oumuamua vor 3,8 Millionen Jahren etwas weniger dicht vorbeigeflogen, allerdings mit geringerer Relativgeschwindigkeit (zehn Kilometer pro Sekunde). Die beiden weiteren Kandidaten liegen dort, wo sich Oumuamua der Bahnrekonstruktion nach vor 1,1 bzw. 6,3 Millionen Jahren befunden hätte – mit ähnlichen Relativgeschwindigkeiten und Minimal-Distanzen. Diese letzten beiden Sterne finden sich zwar in einigen Durchmusterungen, aber es ist bislang wenig über sie bekannt.
Damit sind vier plausible Kandidaten gefunden. Der endgültige Nachweis, wo Oumuamua herkommt, steht aber noch aus. Um Oumuamua mit der beobachteten Geschwindigkeit auszustoßen, müsste das betreffende Planetensystem einen Riesenplaneten enthalten, der Oumuamua in die Tiefen des Weltraums schleudern konnte. Allerdings sind die betreffenden Sterne noch nicht hinreichend erforscht, als das man wüsste, welche Planeten sie umkreisen. Das könnte sich in Zukunft durchaus ändern.
Die Studie ist auch durch die Anzahl von Sternen mit Radialgeschwindigkeiten in der Gaia-Datenveröffentlichung 2 begrenzt. Gaias dritte Datenveröffentlichung DR3, die für 2021 geplant ist, soll Radialgeschwindigkeiten für zehn Mal mehr Sterne enthalten. Das könnte zur Identifizierung weiterer Kandidaten führen. Die Suche nach Oumuamuas Zuhause wird daher noch weitergehen. Ganz bis nach Hause haben die Astronomen unseren interstellaren Besucher noch nicht verfolgen können.
MPIA / DE