Heisenbergsche Unschärferelation muss verallgemeinert werden
Experimentell nachgewiesen: Bei bestimmten Messungen ist die naive Lehrbuchversion der Unschärferelation deutlich verletzt.
Die Heisenbergsche Unschärferelation hat seit über 80 Jahren nun schon viele Quantentheoretiker und Wissenschaftsphilosophen um den Schlaf und manchmal auch schier um den Verstand gebracht. Wer glaubt, so langsam müssten doch alle Fragen geklärt sein, wird von der vertrackten Quantenwelt aber wieder eines Besseren belehrt. Wie Forscher der Universität Toronto experimentell überprüft haben, ist die Situation nämlich noch komplexer, als sie üblicherweise in den Lehrbüchern der Quantenphysik dargestellt wird. Bei sogenannten schwachen Messungen ist die Unschärferelation in ihrer einfachen Formulierung verletzt. Stattdessen muss bei Messsituationen eine alternative Formulierung benutzt werden, die mehr Terme aufweist als die Standardformulierung.
Abb.: Schema des Versuchsaufbaus; Mit Hilfe von Strahlteilern und Polarisationsfiltern bestimmen die Forscher den Einfluss des Messprozesses auf den Zustand der verschränkten Photonen 1 und 2. (Bild: A. Steinberg et al.)
In der Lehrbuchliteratur wird die Unschärferelation häufig in der Weise dargestellt, wie Heisenberg sie ursprünglich ersonnen hatte. Nachdem die Grundgleichungen der Quantenphysik durch Heisenberg und Schrödinger aufgestellt worden waren, standen die Quantentheoretiker um Niels Bohr vor der Frage, welche Bedeutung dem Formalismus zuzumessen sei. Motiviert durch eine Bemerkung Einsteins, man solle neue physikalische Theorien nur auf beobachtbare Größen bauen, stieß Heisenberg dann auf die nach ihm benannten Unschärferelationen. Das Gedankenexperiment, das ihn auf diese Gleichungen führte, drehte sich um die Beeinflussung eines Messobjektes durch den Akt der Messung.
In dieser Form werden die Gleichungen häufig auch in Standardlehrbüchern eingeführt. Dabei ist aber zu beachten, dass das Unschärfeprinzip eigentlich in zwei Varianten auftritt. Einmal drückt es ganz allgemein die intrinsische Unschärfe von Quantenzuständen aus. Ein Quantenzustand kann nicht gleichzeitig in zwei komplementären Eigenschaften scharfe Werte besitzen. Dementsprechend können diese Werte auch nicht gleichzeitig in voller Schärfe gemessen werden. In der Unschärferelation findet sich dieser Zusammenhang darin wieder, dass das Produkt der Standardabweichungen zweier komplementärer Messgrößen eines Quantenzustandes nicht kleiner werden kann als ein bestimmter Wert. Dieser Zusammenhang ist eine der wichtigsten fundamentalen Einsichten der Quantenphysik und mathematisch und experimentell bestens belegt.
Andererseits kann man die Unschärferelation aber auch so auffassen, dass ein Quantenzustand durch jede Art von Messung gestört wird und sich folglich verändert, weil eine Messung immer mit einer unkontrollierbaren Zustandsänderung einhergeht. Üblicherweise überträgt man die Formel aus dem obigen Zusammenhang in eine Messsituation, indem man den einen Term des Produkts als Präzision der Messung, den anderen als induzierte Störung interpretiert. Dies ist eine alte und weniger allgemeine Formulierung der Unschärferelation, die mittlerweile mathematisch als nicht korrekt ausgewiesen ist. Stattdessen tauchen bei der Behandlung des Messproblems weitere Terme in der Unschärferelation auf, die in der alten Variante fehlen.
Abb.: Lee Rozema und Dylan Mahler justieren die Optik. (Bild: A. Steinberg et al.)
Kanadische Forscher haben diesen vertrackten Sachverhalt nun auch experimentell überprüfen können und dabei festgestellt, dass in bestimmten Situationen die Vorhersagen der naiven Interpretation der Unschärferelation immer verletzt werden. Die Ergebnisse sind jedoch in hervorragender Übereinstimmung mit der korrigierten modernen Version der Unschärferelation bei Messprozessen.
Für ihre Versuche benutzten die Forscher verschränkte Zustände von Photonen, wie sie mittlerweile etwa im Cluster-State-Quantencomputing eingesetzt werden. Mit Hilfe von Strahlteilern und Polarisationsfiltern konnten sie den Einfluss des Messprozesses auf den Zustand der Photonen bestimmen. Sie nutzten hierzu das Prinzip der schwachen Messung. Hierbei wählt man die Kopplung zwischen Messgerät und Quantensystem so gering, dass dieses kaum beeinflusst wird. Indem man danach aber eine normale Messung am komplementären Messwert ausführt, und zwar bei einer Vielzahl identisch präparierter Zustände, kann man über die gewonnene Statistik gewisse Eigenschaften des Quantenzustands rekonstruieren.
Das Überraschende an den Ergebnissen ist nicht nur, dass in bestimmten Situationen die überholte Variante der Unschärferelation immer verletzt wird, sondern vor allem, dass die Störung des Systems durch schwache Messungen geringer ausfällt als üblicherweise angenommen. Insbesondere für Anwendungen im Bereich der Quantenkryptographie sollten diese Ergebnisse aufhorchen lassen.
Aber auch für fundamentale Fragen zum Verständnis der Unschärferelation sind diese Erkenntnisse von Belang. Denn mit dem Nachweis, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen der intrinsischen Unschärfe von Quantensystemen und der endlichen Beeinflussung solcher Systeme durch Messungen, stehen nicht nur Lehrbuchautoren und Didaktiker, sondern auch Wissenschaftstheoretiker vor neuen Herausforderungen.
Dirk Eidemüller
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