23.08.2021

Hochgeladene Ionen auf Elektronenfang

Gestapelte Graphenschichten erlauben Einblick in neutralisierende Prozesse.

Die atomaren Zustände, die in den Labors der TU Wien erzeugt werden, sind sehr außer­gewöhnlich und spielen für die Forschung eine wichtige Rolle. Es handelt sich um hochgeladene Ionen, denen nicht nur ein Elektron weggenommen wurde, sondern viele – etwa zwanzig bis vierzig. Schon lange wird untersucht, was passiert, wenn solche hochgeladenen Ionen auf feste Materialien treffen. Das spielt für viele wichtige Anwendungs­bereiche in der Material­forschung eine Rolle. Entscheidend ist dabei, wie sich der Ladungszustand der Ionen beim Durch­dringen eines Materials verändert – gerade das konnte bisher aber nicht direkt beobachtet werden. Nun zeigen Messungen, dass die Ionen dabei bemerkens­wert einfachen Gesetzen gehorchen.

Abb.: Hoch­geladene Xenon-Ionen sammeln beim Transfer durch Graphen­schichten...
Abb.: Hoch­geladene Xenon-Ionen sammeln beim Transfer durch Graphen­schichten Elektronen ein. (Bild: NPG / TU Wien)

Wenn hoch­geladene Ionen ein festes Material durchdringen, dann können sie sich die fehlenden Elektronen aus dem Material zurückholen und so elektrisch neutral werden. Wie, wo und auf welche Weise das genau passiert, ist aber schwer zu untersuchen. „Wir wussten, dass dieser Prozess sehr schnell sein muss, weil schon eine recht dünne Material­schicht genügt, um Ionen vollständig zu neutralisieren“, sagt Anna Niggas. Sie arbeitet derzeit in der Arbeits­gruppe von Richard Wilhelm am Institut für Angewandte Physik der TU Wien an ihrer Dissertation.

Neuartige 2D-Materialien wie Graphen, das nur aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoff­atomen besteht, eröffnen nun erstmals eine Möglichkeit, den Frage­stellungen auf den Grund zu gehen: „Graphen­schichten kann man aufeinanderstapeln, sodass immer dickere Schichten entstehen – man kann einen Festkörper quasi schichtweise zusammenbauen“, sagt Richard Wilhelm. „Wir haben einzelne, doppelte und dreifache Graphens­chichten untersucht. So kann man Schritt für Schritt, Atomlage für Atomlage sehen, wie sich die hochgeladenen Ionen genau verändern.“ Auf diese Weise kann man einen Übergang studieren, von der einzelnen Atomschicht bis zum gewöhn­lichen dreidi­mensionalen Material. 

Die Ionen wurden bei unter­schiedlichen Geschwindig­keiten durch die unterschiedlich dicken Kohlenstoff­schichten geschossen. Dabei zeigte sich: Entscheidend ist, wie viel Zeit das Projektil in unmittelbarer Nähe der Atom­schichten verbringt. „Wenn man berücksichtigt, dass die Ionen auf ihrer Reise durch zwei oder drei Graphen­schichten eben zwei- oder dreimal so lange mit Kohlenstoff­atomen in Kontakt kommen wie in einer einzigen Graphen-Schicht, dann lässt sich mit einfachen Formeln erklären, wie rasch die Ionen Elektronen einfangen und ihren Ladungs­zustand ändern“, erklärt Anna Niggas. „Mit unseren Ergebnissen können wir nun erstmals berechnen, wie viele Atomlagen man – je nach Geschwindigkeit und anfänglichem Ladungszustand der Ionen – benötigt, bis die Ionen elektrisch neutral sind.“

Um die Dynamik des Ladungs­einfangs auf diese Weise zu untersuchen, muss man die Proben zunächst ganz besonders sorgfältig vorbereiten. Bernhard C. Bayer vom Institut für Material­chemie der TU Wien gelang es mittels hochauf­lösender Mikroskopie, die Atomlagen genau zu charakterisieren – eine große Heraus­forderung, wenn aufgrund der extrem geringen Schichtdicke nur sehr wenig Material für die Untersuchung zur Verfügung steht. Die neuen Erkenntnisse sind für viele Forschungs­bereiche wichtig: Einerseits lassen sich auf diese Weise ganz grundlegende Phänomene studieren, die mit anderen Methoden schwer zugänglich sind. Anderer­seits ist die Wechsel­wirkung zwischen Ionen und festen Materialien auch für ganz praktische Anwendungen von Bedeutung – etwa in der Material­analytik, wo man Ionen verwendet, um die Eigenschaften neuartiger Werkstoffe sehr genau zu untersuchen oder in der Halbleiter­technologie, wo Ionen­strahlen verwendet werden, um Schaltkreise zu strukturieren.

TU Wien / JOL

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