04.12.2014

Ja nicht abreißen lassen!

Simulationsdaten ermöglichen realistische Abschätzung zum Strömungsabriss an Flugzeugtragflächen.

Der Luftstrom ist die wichtigste Grundlage und zugleich die größte Gefahr des Fliegens: Reißt die Strömung an den Tragflügeln oder an den Triebwerken ab, kommt es zum so genannten Überziehen und damit zum Verlust des Auftriebs. Im schlimmsten Fall kann auch ein Flugzeugabsturz die Folge sein. Diesen flugphysikalischen Grenzbereich auszuloten zählt zu den größten Herausforderungen der Luftfahrtforschung. Jedoch ist die praktische Erprobung im Flug mit hohen Risiken und Kosten verbunden; eine theoretische Berechnung der komplexen Vorgänge war bisher nahezu unmöglich.

Abb.: Otto Lilienthal auf einem seiner vielen Flüge (Bild: Neuhauss / Fülleborn)

Nun ist es einer an der TU Braunschweig angesiedelten Forschergruppe gelungen, diesen Grenzbereich erstmals mithilfe von Simulationen zu betreten. Ihre Ergebnisse legen die Grundlage für eine effizientere Entwicklung künftiger Verkehrsflugzeuge und einen sicheren und geräuschärmeren Einsatz.

Das Risiko des Überziehens ist so alt wie das Fliegen selbst: bereits Otto Lilienthal wurde ein gefährlicher Strömungsabriss zum Verhängnis. Eine Böe soll dazu geführt haben, dass der Flugpionier mit seinem Gleitflieger verunglückte. Dahinter verbirgt sich ein komplexes flugphysikalisches Phänomen. Denn ein Flugzeug hält sich durch einen gleichmäßigen Verlauf der Strömung von der Vorderkante zur Hinterkante des Tragflügels in der Luft. Reißt die Strömung ab, kommt es zu Verwirbelungen und Rückströmung, die zum Verlust des Auftriebs und damit schlimmstenfalls zum Absturz führen. Obwohl sich seit Lilienthals Zeiten einiges in der Luftfahrttechnik getan hat, ist die Erforschung dieses flugphysikalischen Grenzbereiches immer noch aktuell. Denn beim langsamen Flug, wie etwa beim Starten und Landen, darf es auch bei modernen Flugzeugen keinesfalls zum Überziehen an Tragflügeln und Triebwerken kommen.

Für Luftfahrtingenieure wie Rolf Radespiel, Leiter des Instituts für Strömungsmechanik der Technischen Universität Braunschweig, zählt die Erforschung eben dieser Grenzbereiche zu den größten Herausforderungen seiner Disziplin. „Für Wissenschaftler und Konstrukteure hat die Flugsicherheit die höchste Priorität. Sie muss im Rahmen des technischen Machbaren stets gewährleistet sein. Können wir diesen Rahmen nun durch neue Erkenntnisse erweitern, haben wir auch mehr Raum, um noch effizientere Flugzeuge zu entwickeln“, erläutert Radespiel. Gemeinsam mit der Forschergruppe „Simulation des Überziehens von Tragflügeln und Triebwerksgondeln“ hat er sich in den vergangen sechs Jahren dieser Herausforderung gestellt.

So ist es mithilfe von Hochleistungsrechnern gelungen, neuartige Simulationen zu entwickeln. Diese erlauben es einerseits, die komplexen physikalischen Vorgänge beim Überziehen zu verstehen. Zum anderen legen sie die Grundlage dafür, die bisherigen Grenzen des technisch Machbaren zu versetzen. „Durch eine enge Zusammenarbeit der Meteorologen an der LU Hannover mit den Luftfahrtwissenschaftlern der TU und des DLR in Braunschweig konnten zum ersten Mal auch realistische Modelle der bewegten Atmosphäre in die Simulationen einbezogen werden“, erklärt der Sprecher der Forschergruppe.

Die neuen Erkenntnisse und Simulationen versetzten nicht nur die Grenzen auf wissenschaftlichem Gebiet. „Eine genaue Kenntnis dieser Bedingungen vergrößert zum einen die Flugsicherheit und schafft zum anderen Raum für neue Ansätze in Fragen des Lärm- und Umweltschutzes“, erläutert Radespiel. So bieten die Ergebnisse neben dem grundlegenden Einblick in ein bisher weitestgehend unbekanntes Terrain auch einen Ausblick auf künftige Möglichkeiten in der Forschung und Entwicklung. „Mit unseren Simulationen kann bei der Entwicklung neuer Flugzeuge künftig Zeit und Kosten eingespart werden. Zudem sind sie eine Grundlage für die Nutzung potenziell leiserer Flugbahnen“, fasst Radespiel zusammen. Die Ergebnisse der Forschergruppe werden unter anderem dem am Niedersächsischen Forschungszentrum für Luftfahrt der TU Braunschweig angesiedelten Sonderforschungsbereiches 880 „Grundlagen des Hochauftriebs künftiger Verkehrsflugzeuge“ zugutekommen.

Die Forschergruppe 1066 „Simulation des Überziehens von Tragflügeln und Triebwerksgondeln“ wird seit dem Jahr 2008 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und hat mit Abschluss der zweiten Förderperiode im Jahr 2015 ihre maximale Förderdauer erreicht. Im Rahmen der Forschergruppe arbeiten die TU Braunschweig und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt der Standorte Braunschweig und Göttingen mit den Universitäten aus Darmstadt, Hannover, München, Stuttgart und Tübingen eng zusammen. In den Transferprojekten sind auch die Unternehmen Rolls-Royce-Deutschland und Airbus mit finanziellen Mitteln beteiligt.

TU Braunschweig / DE

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