Keimendes Eisen
Entstehung eines Kristalls mit speziellem Elektronenmikroskop gefilmt.
Metalle und ihr Verhalten unter wechselnden Einflüssen sind zwar recht gut erforscht, allerdings war bislang nicht belegt, wie die Keimbildung von Kristallen abläuft – wie also einzelne Atome beginnen, sich zu einer dreidimensionalen Gitterstruktur zu formieren. Forschern der Uni Ulm ist es in Kooperation mit Kollegen aus England und Japan jetzt gelungen, diese Entstehung eines Kristalls zu beobachten.
„In der Standardliteratur gab es bislang zwei Modelle, wie das Keimen eines Kristalls ablaufen könnte“, erläutert Ute Kaiser, Leiterin der materialwissenschaftlichen Elektronenmikroskopie an der Uni Ulm. „Eines ging davon aus, dass sich Atome einer nach dem anderen aneinandersetzen und so das Kristallgitter bilden. Das zweite Modell nahm an, es könnte eine ungeordnete Zwischenphase geben, aus der heraus sich der Kristall bildet.“ Das Forschungsteam konnte mit seiner Arbeit jetzt zeigen, welches Kristallbildungsmodell zutrifft.
Dass die Mikroskopie-Spezialisten beim Keimen eines Kristalls zusehen konnten, war zunächst ein Zufall. Für die ursprünglich geplante Untersuchung hatten die Mitstreiter aus Nottingham Eisenatome in Kohlenstoff-Nanoröhren eingebracht. Beim Blick durch das bildfehlerkorrigierte Elektronenmikroskop TITAN wurden die Wissenschaftler Zeuge, wie sich die einzelnen Eisenatome zusammenballten — bei einer Auflösung von einem Bild pro Sekunde praktisch in Echtzeit.
Ausgelöst wurde die Keimbildung durch Energieübertragung des Elektronenstrahls des Mikroskops auf die Eisenatome. Und dabei offenbarte sich schließlich, dass zunächst einige wenige Eisenatome eine amorphe Phase bildeten, eine flüssigkeitsähnliche Häufung von Atomen ohne innere Struktur. „Wir haben herausgefunden, dass die Atome erst oberhalb einer kritischen Anzahl zwischen 10 und 20 beginnen, sich zu einer regelmäßigen Gitterstruktur zu ordnen. Damit konnten wir den Beweis erbringen, dass die Keimbildung von Kristallen auf einem zweistufigen Nukleationsmechanismus basiert“, beschreibt Kecheng Cao von der Uni Ulm die Entdeckung einer Übergangsphase bei der Bildung metallischer Kristallstrukturen. „In weiteren Untersuchungen mit Eisen-, Gold- und Rhenium-Atomen haben wir diesen Prozess gezielt beobachtet und dabei immer ein ähnliches Verhalten gesehen“, sagt sein Kollege Johannes Biskupek.
„Einen Schlusspunkt für unsere Forschung bedeutet diese bahnbrechende Beobachtung aber nicht“, betont Kaiser. „Denn bei anderen Materialien könnte es abweichende Abläufe geben. Wir wollen daher auch komplexere Materialien wie beispielsweise Metalllegierungen auf ihr Kristallisationsverhalten untersuchen.“ Zum Einsatz kommt dabei das neue Super-Mikroskop SALVE. Das an der Uni Ulm entwickelte und inzwischen fertiggestellte, zweifach bildfehlerkorrigierte Niederspannungs-Transmissionselektronenmikroskop gehört weltweit zu den leistungsfähigsten Geräten seiner Art. Es hat eine um den Faktor drei höhere Auflösung als derzeitige einfach-korrigierte TEM und erlaubt noch viel tiefere Einblicke in die erstaunliche Welt der Atome.
U. Ulm
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
K. Cao et al.: Atomic mechanism of metal crystal nucleus formation in a single-walled carbon nanotube, Nat. Chem., online 28. August 2020; DOI: 10.1038/s41557-020-0538-9 - Materialwissenschaftlichen Elektronenmikroskopie (U. Kaiser), Universität Ulm