Kernoberfläche beeinflusst Neutronenbindung
Erste laserspektroskopische Messungen der Atomkerngröße jenseits von Zinn-132 zeigen den „Knick“.
Präzise laserspektroskopische Messungen erlauben es, die Größe von Atomkernen auch für sehr kurzlebige Isotope zu bestimmen. Einem internationalen Team gelang es jetzt erstmals, diese Technik über das „doppelt magische“ Zinn-Isotop 132Sn hinaus anzuwenden. Sie fanden eine abrupte Zunahme des Radius. Den Daten zufolge wäre der Einfluss der Kernoberfläche auf die Bindung der Neutronen und Protonen größer als bislang angenommen.
Kein anderes Element besitzt so viele stabile Isotope wie Zinn, weil dies ein Element mit einer „magischen“ Protonenzahl ist. Und Zinn ist das schwerste Element, das zwei doppelt-magische Isotope besitzt: Zinn-100 mit 50 Neutronen und Zinn-132 mit 82 Neutronen. Beide sind aber sehr kurzlebig und kommen nicht natürlich vor, weshalb sie für die Experimente an einer Beschleunigeranlage künstlich erzeugt und innerhalb ihrer Lebensdauer von nur wenigen Sekunden untersucht werden müssen.
Ein Schalenabschluss ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bindungsenergie der äußersten Neutronen entlang einer Isotopenkette jenseits der magischen Neutronenzahl abrupt abfällt. Für den Ladungsradius des Kerns, also der Kerngröße, erwartet man den umgekehrten Fall – einen plötzlichen Anstieg. Festzustellen, ob dieser „Knick im Trend“ bei den Ladungsradien entlang der Zinn-Isotopenkette existiert, war das Ziel des Experiments.
Die internationale „Collaps“-Kollaboration, an der Physiker der TU Darmstadt und des MPIs für Kernphysik in Heidelberg maßgeblich beteiligt sind, nutzte die Isotopenfabrik Isolde am CERN, um die kurzlebigen Kerne zu produzieren. Erstmals konnten sie dabei die Ladungsradien bis zum Isotop Zinn-134 bestimmen und damit den Verlauf der Ladungsradien am Schalenabschluss bei Zinn-132 überprüfen. Oberhalb von Zinn-132 nimmt der Radius deutlich schneller zu als unterhalb – die Kurve, die diesen Trend grafisch darstellt, macht einen scharfen Knick. Dies ist ein weiteres Indiz für den doppelt magischen Charakter des Isotops. Ein ähnliches Verhalten wurde früher auch schon für das ebenfalls doppelt magische Isotop Blei-208 beobachtet. Der Mechanismus, der für den „Knick“ in den Radien verantwortlich ist, ist jedoch ein anderer als für den ähnlichen Trend bei den Bindungsenergien. Darum liefern die neuen Messungen der Radien wichtige Information über die Kernstruktur.
Beteiligten theoretischen Kernphysikern von der Universität Erlangen-Nürnberg und der Michigan State University gelang es, die treibende Kraft hinter der sprunghaften Zunahme der Radien nach Zinn-132 zu identifizieren: eine verstärkte Bindung von Neutronenpaaren an der Kernoberfläche. Dies ist eine neue Ausprägung des gleichen Effektes, durch den auch schon die Isotopenketten von Kalzium, Eisen und Kadmium erfolgreich beschrieben werden konnten.
Erst die neuen Informationen aus Präzisionsmessungen von Radien instabiler Isotope erlauben es aber, diesen Effekt als Beitrag zur Kernmodellierung eindeutig und quantitativ zu bestimmen. Herkömmliche Kernmodelle, bei deren Entwicklung man die Radien kurzlebiger Isotope noch nicht zur Verfügung hatte, unterschätzen den Oberflächenbeitrag zur Paarbindung und haben in der Regel Schwierigkeiten, den Knick im Trend der Radien an Schalenabschlüssen konsistent zu beschreiben.
Die Arbeit wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Forschungsverbunds Isolde.DE und der Max-Planck-Gesellschaft gefördert.
TUD / od
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
C. Gorges et al.: Laser Spectroscopy of Neutron-Rich Tin Isotopes: A Discontinuity in Charge Radii across the N = 82 Shell Closure, Phys. Rev. Lett. 122, 192502 (online 16. Mai 2019); DOI: 10.1103/PhysRevLett.122.192502 - AG Nörtershäuser, Institut für Kernphysik (IKP), Technische Universität Darmstadt
- COLlinear LAser SPectroscopy („Collaps“) @ ISOLDE-CERN
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