09.05.2008

Kontrolliert ins Chaos getunnelt

Eine Theorie des dynamischen Tunnelns für Quantenbillards wurde jetzt experimentell und numerisch bestätigt.



Eine Theorie des dynamischen Tunnelns für Quantenbillards wurde jetzt experimentell und numerisch bestätigt.

Durch quantenmechanisches Tunneln kann ein Teilchen eine Energiebarriere überwinden, auch wenn ihm dies nach den Gesetzen der klassischen Physik verboten ist. Die Tunnelwahrscheinlichkeit lässt sich nach der semiklassischen WKB-Näherung berechnen. Ein anderer Tunneleffekt tritt auf, wenn im klassischen Phasenraum des Teilchens Bereiche geordneter und chaotischer Bewegung koexistieren. Ein Übergang zwischen diesen Bereichen ist, obwohl klassisch verboten, quantenmechanisch wiederum möglich. Die Wahrscheinlichkeit für dieses dynamische Tunneln ließ sich bisher nur sehr grob abschätzen. Jetzt haben Forscher aus Dresden, Maribor und Marburg die Rate berechnet, mit der man aus der Ordnung ins Chaos tunnelt, und das Ergebnis experimentell überprüft.

Die untersuchte Dynamik ist ein zweidimensionales Billard: Ein Teilchen bewegt sich reibungsfrei in einem zusammenhängenden Gebiet, wobei die potentielle Energie des Teilchens im Innern des Gebiets null, am Rande und außerhalb jedoch unendlich ist. Daher kann das Teilchen das Innere des Gebiets nicht verlassen und wird am Rand reflektiert. Dazwischen bewegt es sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit. Um das quantenmechanische Problem zu lösen, sucht man die Eigenwerte und Eigenfunktionen der zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung. Aufgrund der besonderen Form des Billardpotentials sind dies auch die Eigenwerte und Eigenfunktionen des zweidimensionalen Laplace-Operators mit der Randbedingung, dass die Funktionen auf dem Rande des Gebiets verschwinden.

Über die klassischen und quantenmechanischen Eigenschaften solcher Billards weiß man sehr viel. So bewegt sich ein Teilchen in einem kreisförmigen Gebiet völlig geordnet, da sein Drehimpuls erhalten bleibt und seine Bewegung integrabel ist. Die dazugehörigen Eigenfunktionen sehen sehr regelmäßig aus und sind dieselben wie für eine elastisch schwingende Kreismembran, die am Rand festgehalten wird. Völlig chaotisch ist die Bewegung hingegen in einem stadionförmigen Gebiet, das aus zwei Kreishälften und einem dazwischen liegenden Rechteck besteht. In diesem Fall sind die Eigenfunktionen weitgehend regellos.

Geordnete und chaotische Bewegung koexistieren in einem Billard, das die Form eines (halben) Pilzes hat (Abb.). Trajektorien, die unter sehr flachem Winkel auf den Viertelkreis des Randes treffen, sind geordnet. Sie bleiben innerhalb der Pilzkappe und gelangen nie in den Pilzstiel, der die Bewegung erst chaotisch macht. Chaotische Trajektorien treffen den Viertelkreis unter spitzem Winkel und machen in unregelmäßigen Abständen Ausflüge in den Pilzstiel. Das entsprechende Quantenbillard hat zwei Arten von Eigenfunktionen. Zum einen die in der Pilzkappe lokalisierten regulären Eigenfunktionen, die nahezu identisch mit bestimmten Eigenfunktionen des kreisförmigen Billards sind. Zum anderen die „chaotischen“ Eigenfunktionen, die sich über das gesamte Gebiet erstrecken und völlig regellos sind.

Abb.: In einem Billard, das die Form eines (halben) Pilzes hat, koexistieren geordnete (rot) und chaotische (blau) Bewegung. Trajektorien, die unter sehr flachem Winkel auf den Viertelkreis des Randes treffen, sind geordnet. Sie bleiben innerhalb der Pilzkappe (rot). (Quelle: Baecker et al.)

Wie groß ist nun die Tunnelrate γ, mit der das Teilchen einen bestimmten regulären Eigenzustand ψ reg des Quantenbillards verlässt und in die chaotischen Eigenzustände dynamisch tunnelt? Darauf geben jetzt Arnd Bäcker von der TU Dresden und seine Kollegen eine Antwort. Wenn man die Form des Billards im Bereich des Pilzstiels variiert, bleiben die regulären Quantenzustände nahezu unverändert, während sich die chaotischen Zustände ändern. Mithilfe von Fermis Goldener Regel kann man die Rate für den Übergang von ψ reg zu einem chaotischen Zustand ψ ch berechnen, die durch bei Variation des Billards miteinander gekoppelt werden. Summiert man über alle chaotischen Zustände, so erhält man die gesuchte Tunnelrate γ für den Zustand ψ reg. Bei ihrer Rechnung machten die Forscher zwei Näherungen. Sie ersetzten ψ reg durch den entsprechenden exakt bekannten Eigenzustand des Kreisbillards, und sie approximierten die chaotischen Zustände durch einen Satz von Zufallswellenfunktionen, die die vorgegebenen Randbedingungen erfüllten. Die überraschend kompakte Formel für γ, die sie erhielten, hing von der radialen und der azimutalen Quantenzahl n bzw. m des regulären Zustands ab. Demnach nahm γ mit wachsendem n zu, mit wachsendem m jedoch ab.

Die Forscher überprüften ihre Formel für die Tunnelrate sowohl experimentell als auch numerisch. Bei den Experimenten benutzten sie einen Mikrowellenresonator, der die Form des Pilzbillards hatte, wobei sich die Stiellänge verändern ließ. Seine Resonanzenergien entsprachen den Eigenenergien des Billards. Wurde die Stiellänge variiert, so veränderten sich die Resonanzenergien. Wenn sich die Energie des ausgewählten regulären Zustandes und eines chaotischen Zustandes zu nahe kamen, wichen sie einander aus. Die beinahe entarteten Energien zeigten dann eine Energieaufspaltung, aus deren Größe sich die Kopplung zwischen den beiden Zuständen und damit auch die Tunnelrate berechnen ließ. Die vorhergesagten Tunnelraten, die keine frei wählbaren Parameter enthielten, stimmten gut mit den experimentellen Resultaten überein. Die Übereinstimmung mit den numerisch berechneten Raten war sogar noch besser und erstreckte sich über 18 Größenordnungen.

Für die Rate des dynamischen Tunnelns beim Pilzbillard gibt es jetzt zwar eine nützliche Formel. Doch diese Formel ist weder so elementar noch so universell gültig wie die WKB-Formel für das quantenmechanische Tunneln. Die Forscher hoffen jedoch, mit ihrer Methode auch die Tunnelraten für andere Billards mit gemischtem Phasenraum herleiten zu können.

Rainer Scharf

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