Kranker Beton
Bislang unbekannte kristalline Anordnung verursacht Risse.
Wenn Brücken, Staumauern und andere Bauwerke aus Beton nach Jahrzehnten von dunklen Rissen durchzogen sind, dann ist AAR die Ursache: die Alkali-Aggregat-Reaktion. Umgangssprachlich auch Betonkrankheit oder gar Betonkrebs genannt, handelt es sich um eine chemische Reaktion zwischen im Beton vorhandenen Stoffen und von außen eindringender Feuchtigkeit. Wie das Material, das im Zuge der AAR entsteht, auf der Ebene einzelner Atome aufgebaut ist, haben jetzt Forscher des Paul-Scherrer-Instituts gemeinsam mit Kollegen des Materialforschungsinstituts Empa entschlüsselt – und dabei eine bislang unbekannte kristalline Anordnung der Atome entdeckt.
Abb.: Die Betonkrankheit: Nahaufnahme von Rissen in Beton, die aufgrund der Alkali-Aggregat-Reaktion (AAR) entstanden sind. (Bild: A. Leemann, Empa)
Bei der AAR sind die Grundzutaten des Betons selbst das Problem: Zement – der Hauptbestandteil von Beton – enthält Alkalimetalle wie Natrium und Kalium. In den Beton eindringende Feuchtigkeit – beispielsweise durch Regen – wird dadurch alkalisch. Die zweite Hauptzutat von Beton sind Sand und Kies. Diese wiederum bestehen aus mineralischen Gesteinen, beispielsweise Quarz oder Feldspat. Chemisch betrachtet handelt es sich bei diesen Mineralien um Silikate. Mit diesen Silikaten reagiert nun das alkalische Wasser und führt zur Bildung von Alkali-Kalzium-Silikat-Hydrat. Dieses wiederum kann Feuchtigkeit aufnehmen. Dadurch allerdings dehnt es sich aus und sprengt mit der Zeit den Beton von innen. Da die AAR sehr langsam geschieht, entstehen zunächst winzige Risse, die mit bloßem Auge nicht sichtbar sind. Im Laufe von drei, vier Jahrzehnten wachsen die Risse jedoch auf beträchtliche Breite und bedrohen schließlich die Dauerhaftigkeit des gesamten Beton-Bauwerks.
„Die meisten Bauwerke, die heute an AAR leiden, wurden zwischen den 1960er und 1980er Jahren erbaut“, erklärt Erich Wieland vom PSI. „Auf das Problem der AAR ist die Forschungsgemeinde in Europa erst in den 1970er Jahren aufmerksam geworden.“ Auch wenn die chemischen Vorgänge der AAR schon lange bekannt sind – die physikalische Struktur des im Zuge der AAR entstehenden Alkali-Kalzium-Silikat-Hydrats hatte bisher noch niemand identifiziert. Diese Wissenslücke konnten die Forscher des PSI und der Empa nun schließen. Dafür untersuchten sie die Substanz einer 1969 erbauten Schweizer Brücke, die stark von AAR betroffen ist.
Eine Materialprobe wurde so lange heruntergeschliffen, bis eine hauchdünne Probe von nur 0,02 Millimeter Dicke übrig blieb. Diese Probe ließ sich an der Synchrotron-Lichtquelle Schweiz SLS mit einem extrem schmalen Röntgenstrahl durchleuchten, der fünfzig Mal dünner ist als ein menschliches Haar. Mittels Diffraktionsmessungen und einer aufwändigen Datenanalyse konnten die Forscher die Kristallstruktur des Materials punktgenau bestimmen. Es zeigte sich, dass das Alkali-Kalzium-Silikat-Hydrat eine bisher nie dokumentierte Silizium-Schichten-Kristallstruktur aufweist.
„Es gibt prinzipiell die Möglichkeit, dem Beton organische Stoffe beizumengen, die den Spannungsaufbau reduzieren können“, erklärt Empa-Forscher Andrea Leemann. „Unsere neuen Ergebnisse stellen diese Überlegungen auf ein wissenschaftliches Fundament und könnten die Basis für neue Materialentwicklungen sein.“
PSI / RK