18.10.2022 • BiophysikMedizinphysik

Krebszellen können bislang unbekannten mechanischen Zustand annehmen

Wenige feste Inseln aus harten Zellen in einer flüssigen Umgebung aus weichen Zellen reichen aus, dass sich Gewebe als mechanisch stabiler Festkörper verhält.

Ein internationales Forscher­team unter der Leitung von Physikern der Universität Leipzig ist einem Paradox der Tumor­biologie auf den Grund gegangen: Einerseits können verhärtete Knoten in gesundem Gewebe ein Hinweis auf eine Krebs­erkrankung sein. Anderer­seits zeigen Messungen an einzelnen Krebszellen, dass diese weicher sind als die gesunden Epithel­zellen, aus denen sie hervor­gegangen sind und deshalb wahr­schein­lich besser im dichten menschliche Gewebe metastieren können. Wie die Wissen­schaftler heraus­fanden, können Krebs­zellen einen bislang unbekannten mechanischen Zustand annehmen.

Abb.: Die Forscher fanden in Krebs­zell­clustern kleine Inseln von steifen,...
Abb.: Die Forscher fanden in Krebs­zell­clustern kleine Inseln von steifen, un­be­weg­lichen Zellen, die um­ge­ben waren von einer Mehr­zahl an be­weg­lichen, weichen Zellen. (Bild: Colour­box)

Zur Bildung von Metastasen in gesundem Gewebe muss ein Tumor das umgebende Gewebe verdrängen. Dazu muss er einen mechanisch stabilen Widerstand erzeugen, um sich Raum zu verschaffen. Anderer­seits ist eine große Verform­bar­keit einzelner Krebszellen vorteil­haft, um aus dem primären Tumor invasiv in anderes Gewebe einzu­dringen. Diese gegen­sätz­lichen Ansprüche werden in bösartigen Tumoren erfüllt, indem die Krebs­zellen mechanisch heterogener und weicher werden. Sie nehmen dann einen bisher unbekannten, neuen Material­zustand an, der die Vorteile von Festkörpern und Flüssig­keiten vereint.

„Patientenproben von Brust- und Gebär­mutter­hals­tumoren zeigen ein größeres Spektrum an mecha­nischen Eigen­schaften, durch die sich die Krebszellen in Richtung weicherer Zellen verschieben, obwohl der gesamte Tumor eine feste Masse bleibt“, erklärt Thomas Fuhs von der Uni Leipzig.

Motiviert durch Computer­simula­tionen fanden die Forscher in Krebszell­clustern kleine Inseln von steifen, unbeweg­lichen Zellen, die umgeben waren von einer Mehrzahl an beweglichen, weichen Zellen. Dabei können sich die weichen Zellen fast so frei wie eine Flüssig­keit bewegen. Die steifen Zellen blockieren sich gegenseitig in ihrer Bewegung. Die Krebszell­cluster in einem Tumor bilden einen neuen Material­zustand. Dabei reichen nur wenige feste Inseln aus harten Zellen in einer flüssigen Umgebung aus weichen Zellen aus, dass sich das Gewebe trotz einer Majorität von beweglichen, weichen Krebszellen nicht mehr flüssig, sondern als mechanisch stabiler Festkörper verhält.

Die Inseln von harten Zellen sind über mechanische Spannungs­brücken aus weichen Zellen verbunden. Dieser Zustand stabi­li­siert das Gewebe hinreichend, um Tumor­wachstum zu erlauben. Gleich­zeitig bietet es viel Raum für weiche, bewegliche Zellen, die aus dem Tumor ausbrechen können, um Metastasen zu bilden.

„Das Paradox, das bei Brust­tumoren aus Zellen, die weicher werden, ein Gebilde entsteht, das härter ist als das ursprüngliche Gewebe, ist also nur ein schein­barer Widerspruch. Dieser Effekt wird noch verstärkt, da hier haupt­säch­lich sehr weiche Fett­zellen in der gesunden Brust mit Zellen verglichen werden, die zwar weicher sind als gesunde Epithel­zellen, aber immer noch deutlich härter als Fettzellen“, sagt Josef Alfons Käs von der Uni Leipzig.

Bei anderen Karzinomen, zum Beispiel Cervix­karzinomen, gibt es keinen Unterschied zwischen der makro­skopischen Steifheit des gesunden und des Tumorgewebes. Aber auch in diesen Karzinomen findet sich eine breitere Verteilung der Elastizität der einzelnen Krebszellen, die zu dem neuen mechanischen Zustand führen. Dieser erlaubt es, dass ein mechanischer stabiler Tumor einen hohen Grad an beweglichen, metastatisch kompetenten Zellen enthalten kann. Die Forscher vermuten, dass dies auf alle soliden Tumore und somit auf 92 Prozent aller Krebs­patienten zutrifft.

Die neuen Einsichten in die Mechanik der Krebszellen und des Tumorgewebes demonstrieren, dass physikalische Prozesse wichtig sind, um das Voran­schreiten eines Tumors zu verstehen. Ob die Zellen in einem Tumor komplett verklemmt bleiben, wie in gesundem Gewebe, oder sich lösen können durch weicher werdende Krebszellen, entscheidet möglicher­weise darüber, ob ein Tumor metastiert.

U. Leipzig / RK

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