15.06.2020

Magisches Zinn mit Überraschungen

Quadrupolmoment des Atomkerns zeigt ungewöhnliches Verhalten.

Ein internationales Forschungs­projekt unter Beteiligung von Forschern der TU Darmstadt, des MPIK Heidelberg, der FAU Erlangen-Nürnberg und der JGU Mainz hat in hochpräzisen Messungen in der langen Isotopen­kette der magischen Zinn­isotope Abweichungen der Kernform von der Kugel­gestalt bestimmt. Die Größe, die diese Abweichung quantitativ erfasst, weist ein ungewöhnlich reguläres Verhalten auf: Für einige Kerne entwickelt sie sich fast exakt linear, während sie für andere einen nahezu perfekten parabolischen Verlauf nimmt. Dies liefert wichtige Informationen für die Weiter­entwicklung der Kern­struktur­theorie. 
 

Abb.: Schematischer Aufbau des Experiments (Bild: D. T. Yordanov et al. /...
Abb.: Schematischer Aufbau des Experiments (Bild: D. T. Yordanov et al. / Springer Nature)

Unter allen chemischen Elementen ist Zinn das mit den meisten – nämlich zehn – natürlich vorkommenden Isotopen, denn Zinn hat die als „magisch“ bekannte Protonen­zahl 50. Darüber hinaus sind 30 weitere, teils sehr kurzlebige Isotope bekannt. Nahe einer magischen Protonenzahl sind alle Kerne kugelrund, wenn sie zudem noch eine gerade Zahl von Neutronen haben, weil Neutronen­paare auch noch recht reaktionsträge – inert – sind. Eine ungerade Neutronenzahl bringt eine Deformation mit sich, und der Rumpfkern reagiert durch die Kern­wechsel­wirkung mit einer zusätzlichen Deformation auf das ungepaarte Neutron. 

Der Deformation von Kernen widmete sich das Forschungs­team unter Beteiligung des Instituts für Kernphysik am Fachbereich Physik der TU Darmstadt. Ein Maß für diese Deformation ist das Quadrupol­moment Q. Eine Verformung des Kerns in Richtung eines Rugbyballs bewirkt ein positives Q. Entwickelt sich die Form des Kerns mehr zu einer Art Frisbee, wird Q negativ. Je stärker die Abweichung von der Kugelgestalt ist, desto größer wird der Betrag des Quadrupol­momentes. Mit Q wächst auch der mittlere Kernradius an. Beide Größen können mit Lasern präzise vermessen werden. Dabei werden die Elektronen in der Atomhülle angeregt. Die genaue Wellenlänge des Laserlichtes, bei der dies geschieht, variiert minimal von Isotop zu Isotop. Wiederum ein winziger Teil dieser Variation ist auf die Änderung des Kern­ladungs­radius bzw. auf das Quadrupol­moment des Kerns zurückzuführen. Die hohe Präzision von Laser­messungen erlaubt es, für jedes der Isotope diesen winzigen Beitrag zu ermitteln. Die Experimente an den teils sehr kurzlebigen Zinn-Isotopen wurden mit Hilfe des Collaps-Experiments an der Isotopenfabrik Isolde des CERN in Genf durchgeführt. Collaps ist seit nun genau vierzig Jahren in Betrieb und – wie sich zeigte – immer noch für Überraschungen gut. 

Die Forscher, die nun die Ergebnisse ihrer Arbeit an Zinn-Isotopen veröffentlicht haben, untersuchten bereits vor einigen Jahren mit der gleichen Methode entlang der Kette der Cadmium­isotope die Reaktion des Rumpfkerns auf das ungepaarte Neutron. Cadmium besitzt ein Protonenpaar weniger als Zinn und hat damit keine abgeschlossene Protonen­schale, ist also nicht magisch. Folglich war die Reaktion des Rumpfkerns auf das ungepaarte Neutron stark und das Team beobachtete einen linearen Anstieg des Quadrupol­momentes von negativen zu positiven Werten, wie er bereits 1955 von Maria Goeppert-Meyer und ihrem Kollegen Hans Jensen theoretisch vorhergesagt wurde. 

Bei den neuen Untersuchungen an Zinnisotopen stellten sich die Quadrupol­momente erwartungsgemäß als deutlich kleiner heraus als die in der Cadmiumkette, da die magische Protonenzahl die Kugelform noch stärker begünstigt. Überraschend war hingegen, dass der Verlauf von Q entlang der Isotopen­kette nun mitnichten linear ist, sondern durch eine etwas komplexere Funktion beschrieben werden muss, die aber selbst Schülern in der Mittelstufe schon bekannt ist: Die Ergebnisse liegen fast perfekt auf einer quadratischen Funktion, einer Parabel. 

Dieses Resultat vergleichen die Forscher mit den Vorhersagen eines theoretischen Modells auf der Basis von effektiven Kernkräften, welches sich jüngst bei der Beschreibung von Ladungs­radien ausgezeichnet hatte. Während das Modell den generellen Trend grob beschreiben kann, zeigen sich bei Details deutliche Abweichungen. Die Daten werden somit zu einem neuen Baustein zum tieferen Verständnis der Kernkräfte. 

TU Darmstadt / DE
 

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