10.05.2010

Mathematik, die Muster macht

Raub- und Beutetiere in vernetzten Habitaten können Turing-Muster bilden.

Raub- und Beutetiere in vernetzten Habitaten können Turing-Muster bilden.

Ob sich in einem Ökosystem ein Räuber durchsetzt oder seine Beute, ist manchmal eine Frage der Mathematik. In einer mit Tümpeln durchsetzten Landschaft etwa können in manchen Wasserlöchern räuberische Amphibien die Oberhand gewinnen, während sich in anderen ihre Beute durchsetzt – vorausgesetzt, Raub- und Beutetiere wandern mit bestimmten Geschwindigkeiten zwischen den Tümpeln hin und her. Alexander S. Mikhailov vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft und Hiroya Nakao von der Universität Kyoto haben jetzt eine Theorie entwickelt, mit der sich die Muster berechnen lassen, nach denen sich Räuber und Beutetiere in einem Netz von Habitaten verteilen. Solche Strukturen heißen Turing-Muster und entstehen unabhängig vom Ausgangszustand. Und zwar möglicherweise nicht nur im Kampf um die Hoheit im Tümpel, sondern in vielen Netzwerken, etwa auch bei der Regulation der Genexpression in einem Embryo, bei der Ausbreitung von Epidemien oder in gekoppelten chemischen Reaktoren.

Abb.: Muster, die von selbst entstehen: In einem kontinuierlichen Raum, nämlich bei einer chemischen Reaktion in einem Gel, hat Patrick de Kepper am Centre de recherche Paul Pascal in Bordeaux Turing-Muster nachgewiesen (links). Solche Muster können auch in einem Netzwerk (rechts) entstehen, etwa in vernetzten Habitaten. Darin bedeuten die hellen Punkte: Beute (Aktivator) und Räuber (Inhibitor) befinden sich im Gleichgewicht: an den orangen Knotenpunkten gewinnt die Beute die Oberhand, an den grünen der Räuber. (Bild: Patrick de Kepper (links) / Illustration nach einer Vorlage von Alexander Mikhailov (Fritz-Haber-Institut der MPG))

Ordnung ist nicht das halbe Leben, sondern das ganze. Denn Leben schafft Strukturen, wo sonst nur Unordnung um sich greifen würde. Das fängt bei den komplizierten biologischen Molekülen, wie der DNA oder Proteinen an und hört bei der Organisation eines mehrzelligen Organismus und beim Zusammenspiel verschiedener Arten in einem Ökosystem noch lange nicht auf. All diese Strukturen entwickeln sich, befeuert von der nötigen Energie, ohne äußeres Zutun – sie entstehen selbstorganisiert.

Einen Beleg, wie komplex selbstorganisierte Strukturen sein können, liefern nun Alexander S. Mikhailov, Leiter eine Arbeitsgruppe am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, und Hiroya Nakao, Professor an der Universität Kyoto: Die beiden Forscher beschreiben mathematisch, wie Aktivitätsmuster in großen Netzwerken entstehen. Ihre Theorie könnte unter anderem erklären, warum das Gleichgewicht von Räubern und Beutetieren an einigen Knotenpunkten eines Netzes aus Habitaten durcheinander gerät. Sie sprechen in einem solchen Fall von einer Turing-Instabilität. Sie ist ebenso wie das entstehende Muster nach dem englischen Mathematiker Alan Turing benannt, der sie entdeckt und, definiert auf einem kontinuierlichen Raum, in Formeln gefasst hat.

Turing-Strukturen im kontinuierlichen Raum können etwa erklären, wie sich Raub- und Beutetiere in einem geschlossenen Ökosystem verteilen oder warum die Ausgangsstoffe und Produkte mancher chemischer Reaktion in einer Lösung spontan ein Streifenmuster bilden. Ein solches Muster entsteht auch hier immer dann, wenn an einem Prozess ein Aktivator und ein Inhibitor beteiligt sind und sich beide mit einer bestimmten Geschwindigkeit durchmischen.

Als Aktivator wirkt im Räuber-Beute-Schema die Beute, die sich ständig vermehrt. In einer chemischen Reaktion übernimmt diesen Part das Produkt, das seine Entstehung selbst beschleunigt – Chemiker sagen, es wirkt autokatalytisch. Als Inhibitor treten im einen Fall die Raubtiere auf, die sich ihrerseits umso besser vermehren, je mehr Beute sie finden. Im anderen Fall spielt diese Rolle ein Nebenprodukt der chemischen Reaktion, das die Entstehung des Hauptprodukts verhindert. Wie schnell Beute und Räuber beziehungsweise die fördernde und hemmende Komponente einer chemischen Reaktion zueinander finden, hängt vom Verhältnis ihrer Diffusionskoeffizienten ab. Letztere bestimmen, wie schnell sich Tiere in einem Ökosystem oder Substanzen in einem Reaktionsmedium ausbreiten.

Beim passenden, dem sogenannten kritischen Verhältnis der Diffusionskoeffizienten entstehen im kontinuierlichen Raum stehende Wellen - bei einer chemischen Reaktion kommt so das Streifenmuster zustande. Die Breite der Streifen entspricht dabei der Wellenlänge, und die hängt wiederum vom Verhältnis der Diffusionskoeffizienten ab.

Dass es sich tatsächlich nicht um ein zufälliges, sondern um ein Turing-Muster handelt, das einer mathematischen Schablone folgt, lässt sich recht einfach beweisen – zumindest für eine chemische Reaktion. Eine Störung bringt das Muster nämlich nur kurzzeitig durcheinander: Fluten Chemiker eine Reaktion mit dem Inhibitor, verschwinden die Streifen zunächst zwar. Schnell aber erholt sich das System und die Reaktion läuft wieder nach dem gleichen Muster ab wie vor der Störung. So viel zum Turing-Muster im kontinuierlichen Raum.

"In einem Netzwerk können sich keine stehenden Wellen bilden", sagt Alexander Mikhailov: "Dennoch entstehen charakteristische Muster, die wir Moden nennen." Auf den ersten Blick sehen die Muster aus, als hätte sich der Zufall hier kreativ betätigt. Das lässt sich am besten am Beispiel der Tümpellandschaft veranschaulichen: In den Simulationen von Alexander Mikhailov und Hiroya Nakao scheinen die Knotenpunkte, also die Wasserlöcher, an denen sich Räuber und Beute ein Patt bieten, völlig wahllos verteilt und ebenso verstreut wirken die Punkte, an denen der eine oder der andere die Oberhand gewinnt.

"Bislang hat man solche Unterschiede immer mit zufälligen Unterschieden zwischen den einzelnen Habitaten erklärt", sagt Mikhailov: "Aber wahrscheinlich entstehen diese Muster auch in vernetzten Ökosystemen eben gerade nicht zufällig, sondern aufgrund einer Turing-Instabilität." Das haben er und Nakao in ihren Simulationen bewiesen: Auch wenn sie dem Räuber eine Überlegenheit verschaffen, bildet sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Muster aus. Das ist allerdings nicht statisch, sondern verändert sich mit der Zeit, was die beiden Forscher ebenfalls simuliert haben. Wie das Muster in einem speziellen Netz aussieht und wie es sich mit der Zeit ändert, hängt wiederum vom Verhältnis der Geschwindigkeiten ab, mit denen Räuber und Beute zwischen den einzelnen Habitaten hin- und her wandern.

Nun setzen Mikhailov und Nakao darauf, dass Biologen ihre Theorie an künstlichen ökologischen Netzwerken prüfen. Dank der Fortschritte in der Mikrofluidik könnten aber auch Chemiker in gekoppelten Mikroreaktoren testen, ob sich Aktivator und Inhibitor tatsächlich nach einem Turing-Muster verteilen.

Sollte sich die Theorie in diesen Experimenten bestätigen, könnte sie die Muster in vielen selbstorganisierten Systemen erklären – etwa das Ausbreitungsmuster einer Epidemie. Städte und Dörfer bilden hier die Knoten eines Netzes aus Verkehrswegen, auf denen sich ein Virus über die Welt verbreitet. Aktivierend wirken bei einer Epidemie alle angesteckten Menschen, die den Erreger weitergeben. Hemmend wirkt, dass die Zahl der nicht angesteckten Menschen immer kleiner wird. "Wo es zu besonders vielen und eher wenigen Infektionen kommt, lässt sich möglicherweise mit einem Turing-Muster erklären", sagt Alexander Mikhailov.

Enthüllen könnte die Theorie auch den verborgenen Plan, nach dem sich Zellen im Embryo auf bestimmte Aufgaben spezialisieren und der anfängliche embryonale Zellhaufen allmählich eine charakteristische Gestalt annimmt, den Plan also, nach dem die Gene in diesem frühen Stadium reguliert werden. Denn auch der embryonale Zellverband mit einigen hundert Zellen lässt sich als Netz betrachten mit den Zellen als Knoten. Zwischen den Zellen können Substanzen hin und her wandern, die Gene aktivieren oder hemmen. Auch hier könnten Gene in manchen Zellen alleine aufgrund einer Turing-Instabilität aktiver sein als in anderen.

Dass es sich auch bei so komplexen Mustern wie dem Zusammenspiel der Gene um Turing-Muster handelt, die selbstorganisiert entstehen, hält Alexander Mikhailov durchaus für möglich: "Ich bin überzeugt, dass Selbstorganisation viel filigranere Muster hervorbringen kann als wir heute annehmen."

Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft

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