Nächtlicher Neutrinospuk
Beim Durchqueren der Erde oszillieren Neutrinos anders als im leeren Raum.
Offenbar hat die irdische Materie Einfluss darauf, wie sich die solaren Neutrinos bei der Erddurchquerung von einer Art in die andere umwandeln. Das zeigen Beobachtungen mit dem Neutrinodetektor Super-Kamiokande, bei denen die Zählraten für solare Neutrinos während des Tages mit denen in der Nacht verglichen wurden. Demnach wandelt sich ein Teil der von der Sonne kommenden Myon-Neutrinos beim Durchqueren der Erde in Elektron-Neutrinos um.
Abb.: Die Neutrinozählrate ist nachts (positiver Cosinus) deutlich größer als am Tage. (A. Renshaw et al., / APS)
In der Sonne entstehen bei verschiedenen Kernreaktionen Elektron-Neutrinos, die sich auf dem Weg zur Erde teilweise in Myon-Neutrinos umwandeln. Diese Oszillationen beruhen darauf, dass Neutrinos zwar in einem eindeutigen Flavourzustand als Elektron-, Myon- oder Tau-Neutrino erzeugt oder vernichtet werden, sich jedoch in der Zwischenzeit als quantenmechanische Überlagerung von anderen Zuständen entwickeln, die unterschiedliche Massen haben. Mit den ersten Detektoren, die nur Elektron-Neutrinos aber keine Myon-und Tau-Neutrinos nachweisen konnten, fand man deshalb deutlich weniger solare Neutrinos als von den Astrophysikern vorhergesagt.
Dieses solare Neutrinorätsel löste sich erst auf, als Detektoren zur Verfügung standen, die für alle drei Neutrinoarten empfindlich waren. So registriert der japanische Detektor Super-Kamiokande, wie Neutrinos mit beliebigem Flavour in einem Tank mit 50.000 Kubikmetern Wasser Elektronen losschlagen, die sich daraufhin schneller als das Licht durch das Wasser bewegen. Die dabei abgegebene Tscherenkow-Strahlung wird von rund 11.000 Fotovervielfacherröhren aufgefangen und verstärkt. Daraus lässt sich die genaue Ankunftszeit eines Neutrinos bestimmen.
Super-Kamiokande ist jedoch nicht für alle Neutrinoarten gleich empfindlich. So streuen die Elektron-Neutrinos an den Elektronen stärker als die Myon- oder Tau-Neutrinos. Das liegt daran, dass die Elektron-Neutrinos mit den Elektronen nicht nur über neutrale Ströme durch Z0-Austausch elektroschwach wechselwirken, sondern zusätzlich auch durch geladene Ströme. Dadurch kann man mit Super-Kamiokande Änderungen in der Zusammensetzung der solaren Neutrinos in Hinblick auf ihren Flavour untersuchen.
Die Wechselwirkung insbesondere mit sehr dichter Materie wirkt auf die Neutrinos zurück. So wiesen Lincoln Wolfenstein 1978 sowie Stanislav Mikheyev und Alexei Smirnov 1986 darauf hin, dass sich die Oszillationen der Neutrinos ändern, wenn diese durch die Sonne fliegen. Dieser von der Sonne hervorgerufene MSW-Mechanismus lässt sich jedoch hier auf der Erde nicht beobachten, da ihm alle solaren Neutrinos unterliegen und eine Referenzmessung im materiefreien Raum nicht möglich ist.
Abb.: Das Innere des für Wartungsarbeiten trockengelegten Detektors von Super-Kamiokande (Bild: U. Tokyo)
Doch auch beim Durchqueren der Erde sollten die solaren Neutrinos dem MSW-Mechanismus unterliegen. Wie Berechnungen gezeigt hatten, sind die dadurch verursachten Neutrinooszillationen denjenigen entgegen gerichtet, denen die solaren Neutrinos auf ihrem Weg von der Sonne zur Erde unterliegen. Demzufolge liegen unter den solaren Neutrinos, die die Erde durchquert haben, geringfügig mehr Elektron-Neutrinos vor als unter den solaren Neutrinos, die direkt von der Sonne in den Detektor gelangen. Für Super-Kamiokande sollte deshalb der solare Neutrinofluss nachts „heller“ sein als am Tage. Messungen haben das jetzt bestätigt.
Dazu wurden die seit 1996 mit Super-Kamiokande registrierten solaren Neutrinoereignisse neu analysiert, aus ihrem genauen Zeitpunkt die Entfernung und der Stand der Sonne berechnet. Daraus ermittelten Andrew Renshaw und seine Kollegen den relativen Unterschied zwischen den Neutrinozählraten am Tage und in der Nacht. Diese Tag-Nacht-Asymmetrie betrug –4,2 %. Das negative Vorzeichen bedeutet, dass nachts mehr solare Neutrinos gemessen wurden als am Tage.
Wegen der höheren Empfindlichkeit von Super-Kamiokande für Elektron-Neutrinos, war somit deren Anteil in der Nacht, also nach Durchqueren der Erde, tatsächlich größer als am Tage. Die gemessene Asymmetrie lag um fast drei Standardabweichungen unter dem Wert 0, was noch kein eindeutiger Beweis für einen irdischen MSW-Effekt ist, aber immerhin ein deutliches Indiz. Weitere Messungen sollen das Ergebnis erhärten. Darüber hinaus konnten die Forscher auch den Unterschied der beiden leichtesten Neutrinomassen bestimmen, der demnach 7 meV beträgt.
Das Team von Super-Kamiokande hat damit den ersten direkten Hinweis erbracht, dass Materie die Neutrinooszillationen beeinflusst. Auf lange Sicht eröffnet sich dadurch auch die Möglichkeit, mit Neutrinos die Erde zu durchleuchten und in ihr Inneres zu blicken. Die einst als Geisterteilchen bezeichneten Neutrinos könnten sich noch in vielerlei Hinsicht als nützlich erweisen.
Rainer Scharf
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