Neuartige Quantenflüssigkeit beobachtet
Anzeichen für einen exotischen Quantenzustand aus elektrischen Dipolen.
Die Physik der kondensierten Materie erlebt gegenwärtig eine Blütezeit. Die Erforschung zahlreicher exotischer Quantenzustände hält Experimentalphysiker und Theoretiker in Atem. Diese Zustände zeigen ungewöhnliche Anregungen wie magnetische Monopole, Spins und elektrische Ladungen, die sich unabhängig voneinander bewegen, obwohl sie von Elektronen herrühren. Quantenphasenübergänge zwischen solchen Zuständen stellen tiefgehende Zusammenhänge her. Dabei kann man auf detaillierte Untersuchungen an maßgeschneiderten Kristallen und auf Simulationen mit ultrakalten Atomen in Lichtgittern zurückgreifen.
Abb.: Links: Im Dipolkristall κ-Hg-Cl haben die Moleküldimere spontan elektrische Polarisationen (grüne Pfeile), die sich kristallin ordnen. Rechts: In der Quantendipolflüssigkeit κ-Hg-Br sind die spontanen Polarisationen ungeordnet aber paarweise quantenmechanisch verschränkt (grüne Brücken). (Bild: N. Hassan et al., AAAS)
Jetzt melden Natalia Drichko von der Johns Hopkins University in Baltimore und ihre Kollegen, dass sie deutliche Hinweise auf die Existenz einer Quantenflüssigkeit gefunden haben, in der räumlich fixierte elektrische Dipole in einem ungeordneten, quantenmechanisch verschränkten Zustand sind. Diese Quantendipolflüssigkeit, die große Ähnlichkeit mit der intensiv untersuchten Quantenspinflüssigkeit hat, kommt aufgrund von Quantenfluktuationen auch bei tiefsten Temperaturen nicht zur Ruhe.
Für den Nachweis der Quantendipolflüssigkeit haben die Forscher Kristalle der geschichteten und dadurch quasi-
Je zwei Moleküle bilden ein Dimer, in dem spontan eine elektrische Polarisierung entsteht. Jedes Dimer trägt somit einen elektrischen Dipol, der in unterschiedliche Richtungen zeigen kann. Da benachbarte Dipole antiferroelektrisch wechselwirken, versuchen sie, sich entgegengesetzt auszurichten. Das klappt aber auf einem Dreiecksgitter nicht durchgängig: Es tritt „Frustration“ auf. Am Temperaturnullpunkt gibt es dann nicht einen ausgezeichneten Grundzustand, sondern eine Vielzahl von Zuständen gleicher Energie. Diese Unbestimmtheit hat weitreichende Folgen.
Abb.: Unterhalb von T = 6 K unterscheiden sich die Wärmekapazitäten von κ-Hg-Cl und κ-Hg-Br, da nur letztere einen in T linearen Anteil aufweist, der von fermionischen Anregungen stammt. Da ist ein Indiz dafür, dass κ-Hg-Br eine Quantendipolflüssigkeit ist. (Bild: N. Hassan et al., AAAS)
Ähnliche Verhältnisse herrschen in antiferromagnetischen Kristallen, bei denen die lokalisierten Elektronenspins ebenfalls auf einem zweidimensionalen Dreiecksgitter sitzen. Auch hier kommt es zur Frustration und als Folge zu faszinierendem quantenmechanischen Verhalten bei tiefen Temperaturen bis hin zu T=0. So können die Spins, auch über große Entfernungen hinweg, quantenmechanisch verschränkte Paare bilden. Eine quantenmechanische Überlagerung all dieser korrelierten, aber ungeordneten Zustände ergibt dann eine Quantenspinflüssigkeit, deren experimenteller Nachweis noch aussteht.
In ähnlicher Weise könnten sich auch die elektrischen Dipole im κ-Hg-Br- und κ-Hg-Cl-Kristall paarweise quantenmechanisch verschränken und eine Quantendipolflüssigkeit bilden. Auch hier wären die Dipole korreliert und zugleich ungeordnet. Es könnte aber auch sein, dass sich die Dipole nicht verschränken, sondern einheitlich ausrichten, wobei sich benachbarte Dipole möglichst antiparallel orientieren. Dann läge ein Dipolkristall vor.
Dipolkristall und Quantendipolflüssigkeit lassen sich anhand ihrer Anregungen unterscheiden. Deshalb haben Natalia Drichko und ihre Mitarbeiter ihre Kristalle auf Temperaturen bis zwei Kelvin abgekühlt und unter anderem ihre Wärmekapazität Cp gemessen. Oberhalb von sechs Kelvin stimmten die Cp-Werte von κ-Hg-Br und κ-Hg-Cl perfekt überein und folgten dem für bosonische Kristallschwingungen typischen T3-Verhalten. Doch unterhalb von sechs Kelvin traten Unterschiede auf. Die Wärmekapazität von κ-Hg-Br zeigte einen zusätzlichen, in T linearen Beitrag.
Einen T-linearen Beitrag liefern fermionische Anregungen wie Spinonen, einzelne Spins, die durch eine Quantenspinflüssigkeit wandern. Aus ihren Messungen der Wärmekapazitäten, ergänzt durch direkte Beobachtung der Anregungen mittels Raman-
Andere BEDT-TTF-Salze, die reine Quantenspinflüssigkeiten zu sein scheinen, können unter Druck supraleitend werden. Man führt das darauf zurück, dass der Druck die Entstehung der Quantenspinflüssigkeit verhindert. Vielleicht wird κ-Hg-Br unter Druck ebenfalls supraleitend, weil dadurch die Bildung der Quantendipolflüssigkeit vereitelt wird. Weitere Experimente müssen hier Klarheit schaffen.
Rainer Scharf
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