Neutrinomasse kleiner als ein Elektronenvolt
Erste Resultate der Neutrinowaage KATRIN vorgestellt.
Die Entdeckung der Neutrino-Oszillation vor zwei Jahrzehnten lieferte den Beleg, dass Neutrinos – entgegen früherer Erwartungen – eine sehr kleine, von Null verschiedene Masse besitzen. Wegen ihrer extrem kleinen Masse spielen Neutrinos eine Schlüsselrolle in Kosmologie und Teilchenphysik. Auch in der Welt der Elementarteilchen ist ihre sehr kleine Masse von Bedeutung: Sie deutet auf neue Physik jenseits gängiger Modelle hin. Die weltweit genaueste Waage, das internationale KATRIN-Experiment am Karlsruher Institut für Techno­,logie [Add. 19.9.], soll in den nächsten Jahren die Masse der Neutrinos mit bisher unerreichter Sensitivität bestimmen. Nach Auswertung der ersten Messergebnisse steht jetzt fest: Die bisher unbekannte Masse des Neutrinos muss unter einem Elektronenvolt liegen. Dieses Resultat ist wesentlicher genauer als bisherige Messungen und weckt Hoffnung, neue Neutrino-Eigenschaften aufzudecken.
Die KATRIN-Kollaboration, an der insgesamt zwanzig Institutionen aus sieben Ländern beteiligt sind, darunter zehn Gruppen aus Deutschland, konnte in den letzten Jahren zahlreiche technologische Herausforderungen bei der Inbetriebnahme des siebzig Meter langen Experimentaufbaus erfolgreich meistern. [Add. 19.9.]
Im Frühjahr 2019 legte das 150-köpfige KATRIN-Team zum ersten Mal Neutrinos auf die Waagschale – natürlich nur im übertragenen Sinn. Dazu ließen die Wissenschaftler über mehrere Wochen hochreines Tritiumgas in der Quelle zirkulieren und zeichneten die ersten Energiespektren von Elektronen aus dem Tritiumzerfall auf. Das internationale Analyseteam machte sich dann an die umfangreiche Arbeit, um aus den aufgenommenen Daten das erste Neutrinomassen-Resultat abzuleiten.
Eine zentrale Aufgabe fiel dabei Thierry Lasserre vom MPI für Physik als Analysekoordinator für diese Messkampagne zu: „Unsere drei internationalen Auswertegruppen haben in letzten Monaten bewusst vollkommen eigenständig gearbeitet, um drei wirklich unabhängige Resultate zu erhalten. Dabei war es wichtig, dass kein Teammitglied das Ergebnis für die Neutrinomasse im Voraus ableiten konnte.“ Wie bei Präzisionsexperimenten heute üblich, wurden dazu wesentliche Zusatzinformationen bis zum letzten Analyseschritt verhüllt. Am Abend des 18. Juli 2019 wurden dann alle Daten freigeschaltet.
Damit konnten die zeitgleich gestarteten Programme über Nacht die Messdaten mit der Modellerwartung vergleichen und nach der charakteristischen Signatur der Neutrinomasse abtasten. Alle drei Gruppen vermeldeten identische Resultate, die die Neutrinomasse auf einen Wert von kleiner als ein Elektronenvolt begrenzen. Die beiden langjährigen KATRIN-Co-Sprecher, Guido Drexlin vom KIT und Christian Weinheimer von der Universität Münster, kommentieren dieses erste Ergebnis mit großer Freude: „Dass KATRIN nach einer Messkampagne von nur wenigen Wochen nun bereits die weltbeste Sensitivität für die Neutrino­,masse besitzt und die mehrjährigen Messungen der Vorgängerexperimente um einen Faktor 2 verbessert, zeigt das außerordentlich hohe Potenzial unseres Projekts.“ [Add. 19.9.]
Susanne Mertens, Leiterin der Gruppe am MPI für Physik, hat eine der Hauptanalysen der ersten Neutrinomasse-Daten koordiniert. Die dafür von der MPP-Gruppe entwickelte Auswertungsstrategie wurde als zentrales Ergebnis dieser Messkampagne veröffentlicht. Daneben war die Gruppe maßgeblich an der Charakterisierung des Untergrunds beteiligt und übernahm wichtige Aufgaben bei der Kalibrierung der Tritiumquelle.
Die jetzt auf einer Fachtagung in Japan veröffentlichten Analysen nutzen ein seit langem bekanntes Prinzip zur direkten Bestimmung der Neutrinomasse: Beim radioaktiven Zerfall von Tritium teilen sich das entstehende Elektron und ein Elektronneutrino die freiwerdende Energie von 18,6 Kiloelektronenvolt. In sehr seltenen Fällen erhält das Elektron nahezu die gesamte Energie, während für das Neutrino nur ein winziger Bruchteil davon übrigbleibt, mindestens aber – gemäß Einstein – der Betrag E = mc² seiner Ruhemasse.
Von den etwa 25 Milliarden Elektronen, die beim Tritium-Zerfall pro Sekunde freigesetzt werden, haben die KATRIN-Wissenschaftler nur eine kleine Teilmenge untersucht: Sie filterten rund zwei Millionen Elektronen mit dem passenden Energiespektrum heraus, um die Neutrinomasse zu ermitteln.
MPP / KIT / RK
Weitere Infos
- KATRIN – Karlsruher Tritium Neutrino Experiment, Karlsruher Institut für Technologie
- KATRIN und TRISTAN: Neutrinos und Dunkle Materie (S. Mertens), Max-Planck-Institut für Physik, München