Neutrinos: kleine Ursache, große Wirkung

Mit dem Experiment KATRIN wollen Physiker endlich die Masse von Neutrinos ermitteln. Viele weitere Experimente sollen die Natur der Geisterteilchen ergründen.

Für Wolfgang Pauli war 1930 das Neutrino-Postulat ein ,,verzweifelter Ausweg‘‘, um die Energieerhaltung in Kernreaktionen zu retten. Gleichzeitig befürchtete er, dass man diese Teilchen wegen ihrer geringen Wechselwirkung womöglich nie würde nachweisen können. Wie wir heute wissen, würde in Lichtjahre dicken Bleischichten gerade mal die Hälfte eines Neutrinoschwarms absorbiert. Dennoch gelang der Nachweis. Heute sind drei Arten von Neutrinos nachgewiesen und vier Nobelpreise zu ihrer Erforschung vergeben worden.

Abb. 1 Arbeiten am Hauptspektromter von KATRIN. Dieses Experiment zur Messung...
Abb. 1 Arbeiten am Hauptspektromter von KATRIN. Dieses Experiment zur Messung der Elektronneutrino-Masse wurde im Karlsruher Institut für Technologie gebaut (Foto: KIT).

Die intensivsten Neutrinoflüsse findet man heute neben Kernreaktoren, wo wenige Prozent der Energie als Antineutrinos freigesetzt werden. Wenige Meter neben einem MultiGigawatt-Leistungsreaktor durchströmen eine Person etwa 100 Kilowatt in Form von Neutrinos, ohne dass man sich auf Grund der extrem schwachen Wechselwirkung je Sorgen machen muss.

Die Frage, ob Neutrinos eine Ruhemasse besitzen, wurde durch den Nachweis von Neutrinooszillationen bejaht: Hierbei wandeln sich die drei Neutrinoarten im Flug quantenmechanisch ineinander um. Dies ist nur bei drei unterschiedlichen Massen möglich ist, wobei mindestens zwei der drei Neutrinos eine Ruhemasse besitzen müssen. Die absolute Masse ist bisher nur von oben beschränkt. Kürzlich hat das KATRIN-Experiment diese Obergrenzen weiter gesenkt, wie Guido Drexlin, Kathrin Valerius und Christian Weinheimer in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit beschreiben.

In jedem Kubikzentimeter des Universums finden sich als Relikt des Urknalls etwa 330 Neutrinos. Wegen ihrer enormen Anzahl sind sie trotz ihrer geringen Masse sehr wichtig. Sie arbeiten quasi gegen die Anziehung der Gravitation, die im frühen Universum kleine Anfangsfluktuationen zu großräumigen Strukturen wie Galaxienhaufen wachsen ließ. Die kosmologischen Neutrinos strömen ungehindert fast mit Lichtgeschwindigkeit umher und schwächen die Strukturbildung auf kleinen kosmologischen Skalen ab. Die zur beobachteten Struktur passenden Neutrinomassen reichen bis zu Werten, wie sie jetzt von KATRIN getestet werden.

Eine andere wichtige Frage ist, ob Neutrinos so wie alle anderen Materieteilchen (Fermionen) sogenannte Dirac-Teilchen sind, bei denen man Teilchen und Anti-Teilchen unterscheiden kann. Elektrisch neutrale Neutrinos könnten aber ihre eigenen Anti-Teilchen sein, was man als Majorana-Neutrino bezeichnet. Dies führt jedoch zur Verletzung der Leptonzahl, was im Standardmodell der Teilchenphysik verboten ist. Eine Konsequenz ist der neutrinolose Doppelbetazerfall, nach dem in Experimenten wie GERDA mit maßgeblicher deutscher Beteiligung gesucht wird.

Wenn Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind, könnte das auch erklären, warum im Universum Materie übrig geblieben ist, die kurz nach dem Urknall nicht von der gleichen Menge Antimaterie zu Licht zerstrahlte. Neutrinos liefern die beste Erklärung für diese sogenannte Baryonasymmetrie, ohne die es nur Licht im Universum gäbe.

Astrophysikalisch entstehen Neutrinos etwa bei Fusionsreaktionen in der Sonne, und deren Nachweis war und ist eine wichtige Säule der Neutrinophysik. Fusionsreaktionen in den Sternen verwandeln Wasserstoff und Helium in schwerere Elemente bis hin zum Eisen. Aber erst die durch Neutrinos möglichen Explosionen von Supernovae produzieren hinreichend viele noch schwerere Elemente wie  Nickel und Zink, die für unsere Umwelt entscheidend sind.

Neutrinos überraschen immer wieder: Es gibt Hinweise, dass es weitere noch schwächer wechselwirkende Arten gibt. Sie könnten prinzipiell die Dunkle Materie im Universum erklären, allerdings sind sie dafür zu leicht und bewegen sich zu schnell. Theoretische Erweiterungen liefern aber interessante Optionen.

Neutrinos sind außerdem auch einzigartige Sonden: Neutrinos aus der Sonne, aus Supernovae, aus der Atmosphäre, aus den Zerfällen radioaktiver Isotope in der Erde, aus Kernreaktoren und aus Beschleunigern ermöglichen spannende Einblicke in diese Quellen.

Trotz ihrer extrem schwachen Wechselwirkung haben Neutrinos viele spannende und teils entscheidende Auswirkungen, ohne die das Universum ganz anders aussähe. Sie sind für viele Fragestellungen der Physik entscheidend. Wahrscheinlich werden die "Geisterteilchen" auch zukünftig noch für so manche Überraschung gut sein.  

Manfred Lindner, Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg

Dieser Essay kommentiert einen Artikel über das Experiment KATRIN, das kürzlich die obere Grenze für die Masse der Elektronneutrinos um einen Faktor zwei verringert hat. Beide Beiträge sind in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit erschienen. 

Originalveröffentlichungen

M. Lindner, Neutrinos: kleine Ursache, große Wirkung, Phys. Unserer Zeit 51(3), 107 (2020); https://doi.org/10.1002/piuz.202070302

G. Drexlin, K. Valerius, C. Weinheimer, Den kosmischen Leichtgewichten auf der Spur, Phys. Unserer Zeit 51(3), 116 (2020); https://doi.org/10.1002/piuz.202001576  

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