04.08.2016

Neutrinos verabschieden Makrorealismus

Test der Leggett-Garg-Ungleichung mit bis­lang größter Reich­weite.

Im Gegensatz zur Quantenwelt verhält sich die makro­skopische Realität gut­mütig: Katzen sind gemeinhin tot oder lebendig – und nicht beides zugleich. Der Mond ist da, auch wenn wir nicht hin­schauen. Zur Charak­teri­sierung der Eigen­schaften der makro­skopischen Realität dienen verschie­dene Unglei­chungen, die durch Quanten­phänomene verletzt werden. Die bekann­teste dieser Unglei­chungen ist die Bellsche Unglei­chung, die die Grenzen für den lokalen Realismus vorgibt.

Abb.: Die Neutrinos oszillieren bei ihrem 735 Kilo­meter langen Weg durch die Erd­kruste vom Fermi­lab bis zum Detektor in der Soudan-Mine. (Bild: MINOS Coll.)

Weniger bekannt ist die Leggett-Garg-Ungleichung, die Anthony James Leggett und Anupam Garg im Jahr 1985 aufge­stellt haben. Während die Bellsche Unglei­chung die Korre­la­tionen zwischen zwei räum­lich getrenn­ten Systemen beschreibt, behandelt die Leggett-Garg-Unglei­chung dasselbe System zu verschie­denen Zeiten. Dadurch liefert die Bellsche Unglei­chung einen Test für den lokalen Realismus. Denn keine physi­ka­lische Wirkung und kein Signal können sich schneller als mit Licht­ge­schwin­dig­keit aus­breiten – das würde die kausale Struktur der Raum­zeit gemäß der Ein­stein­schen Rela­tivi­täts­theorie ver­letzen. Quanten­systeme können jedoch zumin­dest prin­zi­piell über belie­bige Distanzen mit­ein­ander stärker korre­liert sein, als es mit klas­sischen – even­tuell auch mit verbor­genen Para­metern – erklär­bar wäre. Darauf deuten alle Experi­mente der letzten Jahr­zehnte hin.

Die Leggett-Garg-Ungleichung hingegen beschreibt die Grenzen, inner­halb derer ein System sich über eine bestimmte Zeit in einem bestimmten Zustand befindet, der sich ohne Beein­flussung über eine Messung bestimmen lassen sollte. Es ist offen­kundig, dass etwa der Kollaps der Wellen­funktion in der Mikro­welt bei einer Mess­situa­tion diesen An­nahmen wider­spricht.

Es ist jedoch schwierig, Experimente zu entwerfen, die nicht nur alle mög­lichen Schlupf­löcher schließen, sondern zugleich auch den typi­scher­weise eng korre­lierten Quanten­charakter über größere Distanzen offen­baren. Die normaler­weise für solche Experi­mente genutzten Photonen lassen sich in irdischen Experi­menten schwer über größere Distanzen als etliche Kilo­meter ein­setzen. Ein Wissen­schaftler­team um Joseph Formaggio am Massa­chusetts Institute of Techno­logy hat sich deshalb jetzt Neutrino-Oszil­la­tionen zunutze gemacht, die das MINOS-Experi­ment am Fermi­lab unter­sucht.

„Der Leggett-Garg-Test mit den Daten der Neutrino-Oszil­la­tionen ermög­licht eine Bestä­tigung der Grund­lagen der Quanten­physik mit der bis­lang größten Distanz”, so Formaggio. Das schränkt auch alter­native Theorien zur Quanten­physik stark ein, die mit Hilfe klas­si­scher An­nahmen arbeiten.

Bei MINOS entstehen bei Kollisionen eines hochenergetischen Protonen­strahls mit einem Graphit­target über einen mehr­stufigen Zerfall von Kaonen, Pionen und Myonen schließlich Myon-Neutrinos, deren Flug­richtung sich über die Bahnen der Mesonen in Magnet­feldern steuern lässt. Die Oszil­la­tionen können die Forscher über zwei Neutrino-Detek­toren nach­weisen, von denen sich einer rund neun­hundert Meter von der Neutrino­quelle ent­fernt befindet, der andere in 735 Kilo­metern Ent­fer­nung in der Soudan-Eisen­mine in Minne­sota. MINOS dient eigent­lich zur Unter­suchung der Neutrino-Oszil­la­tionen und ihrer Para­meter, eignet sich auf­grund seiner Geo­metrie aber auch hervor­ragend für Leggett-Garg-Tests.

Die Wissenschaftler untersuchten insgesamt 715 verschiedene Sätze von Neutrino­daten, um mög­liche wechsel­seitige Beein­flus­sungen aus­zu­schließen. Das ist aus logischen Gründen not­wendig, denn es lässt sich zumin­dest prinzi­piell nicht aus­schließen, dass die Mes­sungen die Ergeb­nisse beein­flussen. Die Leggett-Garg-Unglei­chungen beruhen auf den beiden Annahmen, dass einer­seits ein makro­skopisches Objekt sich in einem bestimmten Zustand befindet und anderer­seits eine Bestim­mung dieses Zustands mög­lich ist, ohne das System zu stören. Bei 577 dieser Neutrino-Daten­sätze stellte sich eine Ver­let­zung der klas­sisch zu erwar­tenden Grenzen dar – was einer Signi­fikanz von über sechs Sigma ent­spricht.

Damit ist – in Einklang mit der Quantenphysik – mindestens eine der beiden An­nahmen des makro­skopi­schen Realismus in der Formu­lierung von Leggett und Garg hin­fällig. Die Ent­fernung zwischen den Neutrino­detek­toren ließe sich natür­lich auch noch weiter nach oben schrauben – prinzi­piell bis hin zur Größen­ordnung des Erd­radius, etwa vom Fermi­lab Richtung Süd­pol, was aber die Messung deut­lich er­schweren würde. Ver­gleich­bare Tests mit Photonen könnten auch zwischen Satel­liten statt­finden. Man darf also ge­spannt sein, wie lange der Distanz­rekord für Bell-ähn­liche Tests über die Grund­lagen der Quanten­physik Bestand haben wird.

Aber auch wenn die Leggett-Garg-Ungleichung einen wichtigen Test für den makro­skopischen Realismus dar­stellt, schränkt sie den Para­meter­raum wohl doch nicht best­mög­lich ein. Wie eine andere Studie in diesem Jahr zeigen konnte, könnten sich schärfere Test­ver­fahren an­geben lassen, die auf die „no-signalling-in-time”-Bedin­gung setzen. Das schmälert jedoch nicht den Wert der Unter­suchungen, wie sie nun an Neutrinos statt­ge­funden haben. Ohnehin ist das Welt­bild des makro­skopischen Realismus, wie er sich para­dig­matisch in den Gesetzen der klas­si­schen Physik wieder­findet, arg lädiert: Der Para­meter­raum für alter­native Theorien zur Quanten­physik ist nach dem Schließen der letzten Schlupf­löcher ziem­lich ge­schrumpft.

Dirk Eidemüller

RK

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