Neutronenreiche Kerne werfen sich in Schale

Jahresrückblick Kern- und Astro-/Teilchenphysik 2018.

Dank einer großen Kampagne, die durch ein einzelnes Neutrino ausgelöst wurde, konnten Forscher erstmals den Ursprungs­ort hoch­energetischer kosmischer Neutrinos ausfindig machen: Ein super­masse­reiches schwarzes Loch im Zentrum einer Galaxie diente als gigantischer Teilchen­beschleuniger. Das ist ein wichtiger Erfolg für die Multi-Messenger-Astronomie. Die Kombination von Neutrino- und Gravitations­wellen­observatorien mit herkömmlichen Boden- und Weltraum­teleskopen dürfte in den kommenden Jahren zu einigen neuen Entdeckungen führen, von denen Astro­physiker schon lange geträumt haben. Denn schon seit Jahren haben hoch­energetische Neutrino-Ereignisse immer wieder Rätsel­raten ausgelöst, woher diese extrem energie­reichen Teilchen denn stammen. Dabei sind auch bei den ungewöhnlich hoch­energetischen Ereignissen immer weitere Über­raschungen möglich. Wie neue Untersuchungen zeigen, handelte es bei einem Ereignis von 2,6 PeV aus dem Juni 2014 wohl nicht um ein gewöhnliches Myon, sondern wohl um ein Tau, was auf eine noch deutlich höhere Energie des Ursprungs-Neutrinos schließen lässt.

Abb.: Künstlerische Darstellung des Zentrums der aktiven Galaxie OJ 287 mit...
Abb.: Künstlerische Darstellung des Zentrums der aktiven Galaxie OJ 287 mit einem präzedierenden Jet. Zwei mögliche Ursachen für die Präzession sind in den Insets dargestellt: A) Präzession durch ein binäres Schwarzes Loch; B) Präzession durch eine verbogene Akkretionsscheibe. (Bild: A. M. Quetz, MPIA)

Ebenfalls für himmlisches Spektakel sorgte eine andere aktive Galaxie, deren Jets eine über­raschende Fluktuation aufweisen. Wie inter­fero­metrische Messungen ergaben, macht der Jet dieses Blazars eine Präzessions­bewegung, die sich wohl nur durch die Existenz eines zweiten schwarzen Loches oder durch die Gezeiten­kräfte einer asymmetrischen Akkretions­scheibe erklären lässt. Aber nicht nur die Suche nach hoch­energetischen Teilchen, sondern auch die Suche nach kalter dunkler Materie geht weiter: Sie hat dieses Jahr zwar keinen direkten Fund als Nachweis erbracht, aber immerhin neue Empfindlichkeits­rekorde: Das XENON1T-Experiment läuft inzwischen praktisch ohne störenden Unter­grund.

Kerne mit ungewöhnlichen Schalen

Gerade für Kernphysiker hatte das Jahr 2018 einige über­raschende neue Einsichten zu bieten. Vor allem bei neutronen­reicher Materie bei schweren Kernen oder am Rand der Nuklid­karte hatte es dabei interessante Befunde gegeben. So ist Oganesson das schwerste bekannte Element und trägt erst seit 2016 seinen Namen. Mit seiner Ordnungs­zahl von 118 ist es nicht nur über­schwer, sondern zeigt auch eine ungewöhnliche Schalen­struktur. Wie die Experimente ergaben, lässt die Lokalisierung der Protonen und Neutronen im Kern auf Effekte schließen, die bei leichteren Elementen in dieser Form nicht auftreten. Über­raschend agile Protonen fanden die Forscher der CLAS-Kollaboration bei Streu­experimenten mit schweren Elementen. Je neutronen­haltiger der Atom­kern war, desto höhere Impulse wiesen die Protonen auf. Und bei Ytterbium-Isotopen fanden Forscher eine Paritäts­verletzung, die mit der Anzahl an Neutronen im Kern anstieg. Das ist nicht nur für die Kern­physik von Bedeutung, sondern erlaubt auch Aussagen darüber, ob eventuell ein bislang unbekanntes Teilchen wie „Z prime“ als Kandidat der dunklen Materie für derartige Effekte ver­antwortlich sein könnte.

Abb.: Berech­nete Neu­tro­nen- (links) und...
Abb.: Berech­nete Neu­tro­nen- (links) und Pro­­to­nen­lo­ka­li­sie­rungs­funk­tio­nen (rechts) in Zinn-132, Oga­nes­­son-302 und dem hy­po­­the­ti­schen 472164. Wäh­rend bei Zinn eine deut­li­che Scha­len­struk­tur zu er­ken­nen ist, be­sit­zen die schwe­ren Ele­men­te vor al­lem bei Neu­tro­nen eine eher ver­wa­sche­ne Struk­tur. (Bild: P. Je­ra­bek et al. / APS)

Im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen und gängigen Illustrationen sind Atom­kerne nicht immer eine runde Sache. So haben etwa bestimmte Nobelium-Isotope ovale Kerne, wie sich anhand von Anregungs­experimenten zeigte. Mit Radien­messungen an Cadmium-Isotopen konnten Forscher ein globales Modell zur Kern­struktur bestätigen, das sich bereits bei Kalzium-Isotopen bewährt hatte. Die Deformation von Atom­kernen spielte auch bei Untersuchungen von Chrom-Isotopen eine Haupt­rolle, mit dem die Wissen­schaftler bislang unbekanntes Terrain auf der Nuklid­karte erschließen wollen. Mit Hilfe solcher Messungen an exotischen Isotopen wollen die Forscher neue Modelle entwickeln, mit denen sich die Bindungs­energien dieser Atom­kerne besser berechnen lassen.

Aber auch die Bestimmung der physikalischen Eigen­schaften der Konstituenten der Atom­kerne selbst stand dieses Jahr im Fokus. So ließ sich die schwache Ladung des Protons über die Paritäts­verletzung der schwachen Wechsel­wirkung genau vermessen. Dies ist ein wichtiger nieder­energetischer Test des Standard­modells, bei dem bestimmte quanten­feld­theoretische Korrekturen durch dunkle Materie zum Tragen kommen könnten. Allerdings erwies sich auch hier das Standard­modell als vor­hersage­kräftig. Auch das Rätsel der Neutronen-Lebens­dauer könnte seiner Lösung einen wichtigen Schritt näher gekommen sein. Dank einer neuartigen Neutronen­falle sind deutlich genauere Messungen möglich als bisher. Eine neue Methode ermöglicht das Auslesen von Kern­spins mit Hilfe eines Raster­tunnel­mikroskops. Damit könnten sich eventuell sogar einzelne Quanten­bits als Kern­spins speichern lassen – eine spannende Möglich­keit für Kernspin-basierte Quanten­register. Und Thorium-229-Kerne könnten dank ihres einzig­artigen Anregungs­spektrums künftig als ultra­präzise Kern­uhren die bisherigen Atom­uhren zumindest teilweise ersetzen. Dank neuer Messungen ließ sich der relevante Energie­bereich hier deutlich eingrenzen, in dem sich der gesuchte Übergang befinden sollte.

Abb.: Die gasgefüllte optische Zelle zur Laserspektroskopie an...
Abb.: Die gasgefüllte optische Zelle zur Laserspektroskopie an Nobelium-Isotopen (Bild: G. Otto, GSI)

Higgs ohne Schluckauf

Auch die Teilchenphysiker haben im Jahr 2018 einige über­raschende Effekte sehen können, auch wenn gerade bei den heiß erwarteten Higgs-Ergebnissen bislang keine ungewöhnlichen Ergebnisse auftraten. So konnten Forscher am CERN einer­seits die Kopplung des Higgs-Bosons an das Top-Quark vermelden, das als schwerstes Teilchen im Bau­kasten des Standard­modells eine besonders starke Empfindlich­keit auf Einflüsse durch bislang unbekannte Teilchen haben sollte. Die Ergebnisse bestätigten jedoch ebenso die Vorhersagen des Standard­modells wie die Messung des Higgs-Zerfalls in Tau-Leptonen. Auch der theoretisch häufigste, aber nur schwer vom Unter­grund zu trennende Zerfall des Higgs in Bottom-Quarks ist endlich gelungen und passt ebenfalls zu den Vorhersagen des Standard­modells. Da der Large Hadron Collider nun in eine längere Betriebspause und Umrüstphase geht, sind weitere Messungen erst ab 2021 mit einer dann von 13 TeV auf 14 TeV gestiegenen Schwer­punkts­energie möglich. Allerdings sind in der Zwischen­zeit unter anderem noch Studien von Messungen aus diesem Jahr zu erwarten, deren Auswertung völlig „blind“ verläuft.

Ebenfalls mit Daten des Large Hadron Collider konnten Wissen­schaftler erst­mals die Streuung von W- und Z-Bosonen aneinander nach­weisen, den Träger­teilchen der schwachen Wechselwirkung. Dadurch lassen sich in Zukunft die Eigen­schaften des Higgs-Bosons nochmals besser unter die Lupe nehmen. Andere Experimente zeigten, wie ein Quark-Gluon-Plasma ausfriert und den Phasen­übergang zu hadronischer Materie vollzieht. Das wirft nicht nur Licht auf die Früh­phase des Kosmos kurz nach dem Urknall, sondern könnte auch helfen, den Einschluss der Quarks in Hadronen besser zu verstehen.

Abb.: Eines der seltenen Streuereignisse der Trägerteilchen der schwachen...
Abb.: Eines der seltenen Streuereignisse der Trägerteilchen der schwachen Wechselwirkung (Bild: ATLAS / CERN)

Auch die Beschleuniger­technologie hat einige ungewöhnliche Neuerungen gesehen: So könnte ein laser­getriebener Elektronen­beschleuniger auf einem Mikrochip Platz finden, was besonders für miniaturisierte medizinische Anwendungen von Interesse ist. Ein anderes Gerät dient hingegen der Entwicklung von Elektronen­beschleunigern, die mit Terahertz-Strahlung betrieben werden und sich durch eine besondere Viel­seitigkeit auszeichnen.

Dirk Eidemüller

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