Neutronenreiche Kerne werfen sich in Schale
Jahresrückblick Kern- und Astro-/Teilchenphysik 2018.
Dank einer großen Kampagne, die durch ein einzelnes Neutrino ausgelöst wurde, konnten Forscher erstmals den Ursprungsort hochenergetischer kosmischer Neutrinos ausfindig machen: Ein supermassereiches schwarzes Loch im Zentrum einer Galaxie diente als gigantischer Teilchenbeschleuniger. Das ist ein wichtiger Erfolg für die Multi-Messenger-Astronomie. Die Kombination von Neutrino- und Gravitationswellenobservatorien mit herkömmlichen Boden- und Weltraumteleskopen dürfte in den kommenden Jahren zu einigen neuen Entdeckungen führen, von denen Astrophysiker schon lange geträumt haben. Denn schon seit Jahren haben hochenergetische Neutrino-Ereignisse immer wieder Rätselraten ausgelöst, woher diese extrem energiereichen Teilchen denn stammen. Dabei sind auch bei den ungewöhnlich hochenergetischen Ereignissen immer weitere Überraschungen möglich. Wie neue Untersuchungen zeigen, handelte es bei einem Ereignis von 2,6 PeV aus dem Juni 2014 wohl nicht um ein gewöhnliches Myon, sondern wohl um ein Tau, was auf eine noch deutlich höhere Energie des Ursprungs-Neutrinos schließen lässt.
Ebenfalls für himmlisches Spektakel sorgte eine andere aktive Galaxie, deren Jets eine überraschende Fluktuation aufweisen. Wie interferometrische Messungen ergaben, macht der Jet dieses Blazars eine Präzessionsbewegung, die sich wohl nur durch die Existenz eines zweiten schwarzen Loches oder durch die Gezeitenkräfte einer asymmetrischen Akkretionsscheibe erklären lässt. Aber nicht nur die Suche nach hochenergetischen Teilchen, sondern auch die Suche nach kalter dunkler Materie geht weiter: Sie hat dieses Jahr zwar keinen direkten Fund als Nachweis erbracht, aber immerhin neue Empfindlichkeitsrekorde: Das XENON1T-Experiment läuft inzwischen praktisch ohne störenden Untergrund.
Kerne mit ungewöhnlichen Schalen
Gerade für Kernphysiker hatte das Jahr 2018 einige überraschende neue Einsichten zu bieten. Vor allem bei neutronenreicher Materie bei schweren Kernen oder am Rand der Nuklidkarte hatte es dabei interessante Befunde gegeben. So ist Oganesson das schwerste bekannte Element und trägt erst seit 2016 seinen Namen. Mit seiner Ordnungszahl von 118 ist es nicht nur überschwer, sondern zeigt auch eine ungewöhnliche Schalenstruktur. Wie die Experimente ergaben, lässt die Lokalisierung der Protonen und Neutronen im Kern auf Effekte schließen, die bei leichteren Elementen in dieser Form nicht auftreten. Überraschend agile Protonen fanden die Forscher der CLAS-Kollaboration bei Streuexperimenten mit schweren Elementen. Je neutronenhaltiger der Atomkern war, desto höhere Impulse wiesen die Protonen auf. Und bei Ytterbium-Isotopen fanden Forscher eine Paritätsverletzung, die mit der Anzahl an Neutronen im Kern anstieg. Das ist nicht nur für die Kernphysik von Bedeutung, sondern erlaubt auch Aussagen darüber, ob eventuell ein bislang unbekanntes Teilchen wie „Z prime“ als Kandidat der dunklen Materie für derartige Effekte verantwortlich sein könnte.
Im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen und gängigen Illustrationen sind Atomkerne nicht immer eine runde Sache. So haben etwa bestimmte Nobelium-Isotope ovale Kerne, wie sich anhand von Anregungsexperimenten zeigte. Mit Radienmessungen an Cadmium-Isotopen konnten Forscher ein globales Modell zur Kernstruktur bestätigen, das sich bereits bei Kalzium-Isotopen bewährt hatte. Die Deformation von Atomkernen spielte auch bei Untersuchungen von Chrom-Isotopen eine Hauptrolle, mit dem die Wissenschaftler bislang unbekanntes Terrain auf der Nuklidkarte erschließen wollen. Mit Hilfe solcher Messungen an exotischen Isotopen wollen die Forscher neue Modelle entwickeln, mit denen sich die Bindungsenergien dieser Atomkerne besser berechnen lassen.
Aber auch die Bestimmung der physikalischen Eigenschaften der Konstituenten der Atomkerne selbst stand dieses Jahr im Fokus. So ließ sich die schwache Ladung des Protons über die Paritätsverletzung der schwachen Wechselwirkung genau vermessen. Dies ist ein wichtiger niederenergetischer Test des Standardmodells, bei dem bestimmte quantenfeldtheoretische Korrekturen durch dunkle Materie zum Tragen kommen könnten. Allerdings erwies sich auch hier das Standardmodell als vorhersagekräftig. Auch das Rätsel der Neutronen-Lebensdauer könnte seiner Lösung einen wichtigen Schritt näher gekommen sein. Dank einer neuartigen Neutronenfalle sind deutlich genauere Messungen möglich als bisher. Eine neue Methode ermöglicht das Auslesen von Kernspins mit Hilfe eines Rastertunnelmikroskops. Damit könnten sich eventuell sogar einzelne Quantenbits als Kernspins speichern lassen – eine spannende Möglichkeit für Kernspin-basierte Quantenregister. Und Thorium-229-Kerne könnten dank ihres einzigartigen Anregungsspektrums künftig als ultrapräzise Kernuhren die bisherigen Atomuhren zumindest teilweise ersetzen. Dank neuer Messungen ließ sich der relevante Energiebereich hier deutlich eingrenzen, in dem sich der gesuchte Übergang befinden sollte.
Higgs ohne Schluckauf
Auch die Teilchenphysiker haben im Jahr 2018 einige überraschende Effekte sehen können, auch wenn gerade bei den heiß erwarteten Higgs-Ergebnissen bislang keine ungewöhnlichen Ergebnisse auftraten. So konnten Forscher am CERN einerseits die Kopplung des Higgs-Bosons an das Top-Quark vermelden, das als schwerstes Teilchen im Baukasten des Standardmodells eine besonders starke Empfindlichkeit auf Einflüsse durch bislang unbekannte Teilchen haben sollte. Die Ergebnisse bestätigten jedoch ebenso die Vorhersagen des Standardmodells wie die Messung des Higgs-Zerfalls in Tau-Leptonen. Auch der theoretisch häufigste, aber nur schwer vom Untergrund zu trennende Zerfall des Higgs in Bottom-Quarks ist endlich gelungen und passt ebenfalls zu den Vorhersagen des Standardmodells. Da der Large Hadron Collider nun in eine längere Betriebspause und Umrüstphase geht, sind weitere Messungen erst ab 2021 mit einer dann von 13 TeV auf 14 TeV gestiegenen Schwerpunktsenergie möglich. Allerdings sind in der Zwischenzeit unter anderem noch Studien von Messungen aus diesem Jahr zu erwarten, deren Auswertung völlig „blind“ verläuft.
Ebenfalls mit Daten des Large Hadron Collider konnten Wissenschaftler erstmals die Streuung von W- und Z-Bosonen aneinander nachweisen, den Trägerteilchen der schwachen Wechselwirkung. Dadurch lassen sich in Zukunft die Eigenschaften des Higgs-Bosons nochmals besser unter die Lupe nehmen. Andere Experimente zeigten, wie ein Quark-Gluon-Plasma ausfriert und den Phasenübergang zu hadronischer Materie vollzieht. Das wirft nicht nur Licht auf die Frühphase des Kosmos kurz nach dem Urknall, sondern könnte auch helfen, den Einschluss der Quarks in Hadronen besser zu verstehen.
Auch die Beschleunigertechnologie hat einige ungewöhnliche Neuerungen gesehen: So könnte ein lasergetriebener Elektronenbeschleuniger auf einem Mikrochip Platz finden, was besonders für miniaturisierte medizinische Anwendungen von Interesse ist. Ein anderes Gerät dient hingegen der Entwicklung von Elektronenbeschleunigern, die mit Terahertz-Strahlung betrieben werden und sich durch eine besondere Vielseitigkeit auszeichnen.
Dirk Eidemüller