Oberfläche von Iridiumdioxid ganz anders als bislang gedacht
Orientierung der Atome auf dem Kristall weicht signifikant von früheren Ergebnissen ab.
Ein Iridiumdioxidkristall ist ein unscheinbareres, fast schwarzes Ding, das für die Elektrochemie eine wichtige Rolle spielt. Das Material ist ein hervorragender Katalysator und kann etwa für die Herstellung von Energieträgern wie Wasserstoff verwendet werden. Wie sich nun herausstellt, wurde die Forschung an Iridiumdioxid bisher aber unter einer völlig falschen Grundannahme betrieben: Die Ausrichtung der Atome auf der Oberfläche ist in Wahrheit eine ganz andere als man bisher angenommen hat. Die Art, wie das festgestellt wurde, könnte zugleich ein erster Blick in einen neuen Forschungsalltag der Zukunft sein: Es handelte sich um eine Gemeinschaftsarbeit aus menschlicher Forschung und künstlicher Intelligenz.
„Ein Kristall kann verschiedene Oberflächen mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften haben“, sagt Florian Kraushofer von der TU Wien. „Stellen wir uns vor, wir haben einen Kristall, der aus würfelförmigen Zellen aufgebaut ist. Wenn wir ihn durchschneiden, entstehen ganz unterschiedliche Schnittflächen, je nachdem, in welcher Richtung wir schneiden.“ Schneidet man genau in Richtung der Würfelzellen, besteht die Schnittfläche aus lauter Quadraten. Man kann die Würfelzellen aber auch diagonal schneiden – dann entsteht ebenfalls eine regelmäßige Fläche, allerdings mit einer anderen Geometrie.
„Wenn ein Kristall langsam wächst, dann bildet er normalerweise eine Oberfläche aus, die energetisch besonders günstig ist“, sagt Kraushofer. Nicht alle möglichen Atom-Anordnungen sind stabil. In manchen Fällen verschieben sich die Atome an der Oberfläche oder ordnen sich um. „Man braucht oft sehr aufwändige Simulationsrechnungen auf Supercomputern, um zu ermitteln, welche geometrische Konfiguration die stabilste ist“, erklärt Kraushofer. „Bei Iridiumdioxid dachte man, das sei das die 110-Richtung – das hatten die Rechnungen so ergeben. Doch überraschenderweise kamen wir bei unseren Messungen zu einem ganz anderen Ergebnis.“
Bei einer Konferenz knapp vor dem Corona-Lockdown traf Ulrike Diebold, die die Forschungsgruppe an der TU Wien leitet, auf Karsten Reuter von der TU München, der sich ebenfalls mit Iridiumdioxid beschäftigt. Sein Team verwendet Machine Learning – also Techniken aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz – um Materialeigenschaften besser berechnen zu können. Und dabei hatte man genau dieselbe Überraschung erlebt. „Genau wie das Experiment hatten auch die Machine-Learning-Algorithmen ergeben, dass die stabile Richtung der Iridiumdioxid-Oberfläche eine andere ist als bisher gedacht“, sagt Reuter. „Wir beschlossen daher, uns die Sache gemeinsam noch näher anzusehen.
Weitere Untersuchungen wurden daher durchgeführt – unter anderem noch aufwändigere Computersimulationen als jene, die früher augenscheinlich das falsche Ergebnis geliefert hatten. Und bei diesen Berechnungen zeigte sich, dass die experimentellen Daten und die Machine-Learning-Algorithmen tatsächlich richtig gelegen waren. „Man muss also alle bisherigen Ergebnisse über Iridiumdioxid völlig neu überdenken“, sagt Diebold. „Die Orientierung der Oberfläche spielt nämlich auch für das chemische und physikalische Verhalten des Materials eine entscheidende Rolle.“
Für Diebold ist das Ergebnis auch ein wichtiger Beweis dafür, dass neue Forschungsmethoden aus dem Bereich Machine Learning für die Wissenschaft höchst wertvoll sein können. „Gerade wenn es darum geht, auf Basis der Quantenphysik neue Materialien zu entwickeln, sind Computersimulationen seit Jahren unverzichtbar – aber sie sind oft extrem aufwändig, teuer und zeitraubend“, sagt Diebold. „Wenn es gelingt, Machine Learning auf intelligente Weise für solche komplizierten Fragen einzusetzen, kann daraus ein großartiges neues Werkzeug entstehen, das die Materialforschung einen großen Schritt nach vorne bringt. Damit das möglich wird, brauchen wir natürlich gleichzeitig auch möglichst gute experimentelle Messungen.“
„Menschliche Intelligenz wird sich dadurch nicht ersetzen lassen – genauso wenig, wie sie bisher durch Computersimulationen ersetzt werden konnte“, ist Diebold überzeugt. „Aber Machine-Learning-Algorithmen werden uns helfen, auf gute Ideen zu kommen, die uns selbst nicht unbedingt eingefallen wären.“
TU Wien / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
J. Timmermann et al.: IrO2 Surface Complexions Identified Through Machine Learning and Surface Investigations, Phys. Rev. Lett. (im Druck); Preprint: arXiv:2009.11569 [cond-mat.mtrl-sci] - Oberflächenphysik (U. Diebold), Institut für angewandte Physik, Technische Universität Wien, Österreich
- Theoretische Chemie (K. Reuter), Technische Universität München