19.11.2004

Oszillierende Neutrinos

Der Neutrino-Detektor KamLAND hat beobachtet, wie Elektron-Antineutrinos nicht nur verschwinden sondern auch wieder auftauchen.




Der Neutrino-Detektor KamLAND hat beobachtet, wie Elektron-Antineutrinos nicht nur verschwinden sondern auch wieder auftauchen.

Als Wolfgang Pauli 1930 die Existenz des Neutrinos postulierte, um die beim Betazerfall gemachten Beobachtungen zu erklären, ahnte er noch nicht, dass dieses rätselhafte Teilchen in drei Versionen daherkommt. Das Standardmodell der Teilchenphysik kennt das Elektron-, das Myon- und das Tau-Neutrino sowie deren Antiteilchen. Da sie ungeladene Leptonen sind, unterliegen sie nur der Schwachen Wechselwirkung und der noch schwächeren Gravitation. Sie können deshalb die Erde nahezu ungehindert durchdringen und sind nur sehr schwer zu beobachten.

Für das Standardmodell sind alle Neutrinos masselos. Doch seit sechs Jahren weiß man, dass das nicht stimmt. Die Massen der drei Neutrinoarten unterscheiden sich um Bruchteile von Elektronenvolt. Das schließt man aus Experimenten, bei denen sich die Neutrinoarten ineinander umgewandelt haben. So hat man 1998 in der japanischen Kamioka-Mine mit dem Neutrinodetektor Super-Kamiokande Myon-Neutrinos beobachtet, die in der Erdatmosphäre durch kosmische Strahlung erzeugt werden. Man hatte erwartet, dass von den registrierten Neutrinos genau so viele von unten, durch die Erde hindurch, in den Detektor gelangen wie von oben. Aber es waren nur etwa halb so viele. Die von unten kommenden Myon-Neutrinos hatten sich auf ihrem Weg durch die Erde in Tau-Neutrinos verwandelt, die Super-Kamiokande nicht nachweisen konnte.

Nachdem klar war, dass sich eine Neutrinoart in eine andere umwandeln kann, ließ sich auch das Rätsel der fehlenden Sonnenneutrinos lösen. Wenn in der Sonne Protonen zu Heliumkernen verschmelzen, entstehen Positronen und Elektron-Neutrinos in großer Zahl. Auf der Erde kommen indes deutlich weniger Neutrinos an, als von der Theorie vorhergesagt. Inzwischen weiß man aufgrund der Messungen mit Super-Kamiokande und mit dem Sudbury Neutrino Observatory in Kanada, dass sich die meisten der in der Sonne entstehenden Elektron-Neutrinos auf dem Weg zur Erde in Myon- und Tau-Neutrinos umwandeln.

Mit KamLAND, dem Kamioka Liquid scintillator Anti-Neutrino Detector, der ebenfalls in der Kamioka-Mine auf Honshu untergebracht ist, hat man jetzt die Umwandlung von Elektron-Antineutrinos in andere Neutrinoarten genauer beobachtet. Insbesondere wollte man klären, ob die verschwundenen Neutrinos nach einiger Zeit tatsächlich auch wieder auftauchen.

Links: KamLAND besteht aus einem 13 Meter großen Ballon, der mit einer Szintillatorflüssigkeit gefüllt ist. Rechts: Auf der Innenwand wurden 1879 Fotomultiplier-Röhren angebracht. (Quelle: KamLAND)

KamLAND besteht aus einem 13 Meter großen Wetterballon, der mit einer Szintillatorflüssigkeit gefüllt ist. Der verschlossene Ballon befindet sich im Innern einer 18 Meter großen ölgefüllten Stahlkugel, auf deren Innenwand 1879 Fotomultiplier-Röhren angebracht sind. Trifft ein Elektron-Antineutrino mit einer Mindestenergie von 1,8 MeV in der Szintillatorflüssigkeit auf ein Proton, so kommt es zum inversen Betazerfall. Es entstehen ein Neutron und ein Positron, das mit hoher Geschwindigkeit davonfliegt. Dabei wird Tscherenkov-Strahlung abgegeben, die mit einem Lichtblitz endet, wenn das Positron nach einigen Zentimetern Flugstrecke mit einem Elektron annihiliert. Anhand dieser Strahlung, die von den Fotomultiplier-Röhren aufgefangen wird, können die einzelnen Neutrinos nachgewiesen und ihre Energie bestimmt werden.

Im Unterschied zu Super-Kamiokande und Sudbury weist man mit KamLAND nicht atmosphärische oder solare Neutrinos nach, sondern solche, die in Kernreaktoren entstehen. Obwohl unmittelbar neben einem Reaktor der Neutrinofluss am größten wäre, muss man mit dem Detektor einen Mindestabstand von etwa 100 km einhalten, wenn man die Oszillationen von einer Neutrinoart in die andere – und wieder zurück – beobachten will. Glücklicherweise ist KamLAND von einer großen Zahl von Kernreaktoren umgeben, die zwischen 100 km und 200 km vom Detektor entfernt sind. Insgesamt 53 Reaktoren trugen ihre Elektron-Antineutrinos zu dem Experiment bei, über das die KamLAND-Kollaboration jetzt berichtet.

Aufgrund der Betriebsprotokolle der Reaktoren ließ sich ziemlich genau berechnen, wie viele Neutrinos sie produziert hatten und wie viele davon den Detektor erreicht hätten, wenn unterwegs keines durch Umwandlung verloren gegangen wäre. Demnach hätte man 365 „Ereignisse“ im Laufe der zwei Jahre erwarten können, während der das Experiment lief. Tatsächlich haben die Forscher nur 258 Elektron-Antineutrinos beobachtet. Die übrigen hatten sich in Myon-Antineutrinos umgewandelt, die für KamLAND unsichtbar waren.

Da die Forscher die Energie für jedes registrierte Neutrino gemessen hatten, konnten sie sogar die Neutrino-Oszillationen sichtbar machen. Dazu nahmen sie an, dass die Neutrinos im Mittel eine Entfernung von L=180 km bis zum Detektor zurückgelegen mussten. Aus der Zahl der beobachteten Neutrinos N(E) und der Zahl der ohne Oszillation erwarteten Neutrinos N 0(E) errechneten sie den Quotienten, den sie dann gegen die im Ruhesystem der Neutrinos vergangene Zeit L/E auftrugen. Die Messpunkte lagen auf einer oszillierenden Kurve.

Für Neutrinos, die sich in ihrer Energie unterschieden, war unterschiedlich viel Zeit bei ihrer Ankunft am Detektor vergangen. Deshalb hatten sie auch unterschiedliche Oszillationsphasen. Die einen hatten sich fast vollständig in eine andere Neutrinoart umgewandelt und blieben weitgehend unsichtbar, die anderen hatten sich wieder zurückverwandelt und wurden vom Detektor registriert. Aufgrund der neuen KamLAND-Ergebnisse kann man ausschließen, dass die Elektron-Antineutrinos auf dem Weg zum Detektor einfach zerfallen sind oder dass sie sich ohne Oszillationen in andere Neutrinoarten umgewandelt haben. An den Neutrino-Oszillationen führt also kein Weg mehr vorbei.

Rainer Scharf

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