06.12.2019

Physik ohne Determinismus

Vorschlag für eine Neuinterpretation der klassischen Physik ohne reelle Zahlen.

In der klassischen Physik geht man in der Regel davon aus, dass genau vorher­gesagt werden kann, wohin sich ein Objekt bewegen wird, sofern Position und Geschwindigkeit des Objekts bekannt sind. Eine vermeintlich überlegene Intelligenz mit exakter Kenntnis aller aktuell wirkenden Kräfte könnte somit sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit des Universums bis ins kleinste Detail bestimmen. Pierre-Simon Laplace veranschaulichte dieses Argument – später auch als Laplace'scher Dämon bekannt – Anfang des 19. Jahrhunderts, um das Konzept des Determinismus in der klassischen Physik zu illus­trieren. Es wird allgemein angenommen, dass der Determinismus erst mit dem Aufkommen der Quanten­physik in Frage gestellt wurde. Die Wissenschafter dieser Zeit stellten fest, dass keine Aussagen mit absoluter Sicherheit getroffen werden können und dass wir nur die Wahrschein­lichkeit berechnen können, mit der ein Ereignis auf bestimmte Weise eintreten könnte.

Abb.:  Das Spiel Bagatelle veran­schaulicht die Frage­stellung nach einem...
Abb.: Das Spiel Bagatelle veran­schaulicht die Frage­stellung nach einem Deter­minismus in der klassischen Physik. (Bild: L. Nocchi / U. Wien)

Aber ist die klassische Physik wirklich vollkommen deterministisch? Dieser Frage gehen Flavio Del Santo, Forscher am Wiener Institut für Quantenoptik und Quanten­information der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften und an der Universität Wien, und Nicolas Gisin von der Universität Genf nun auf den Grund. Aufbauend auf Gisins bisherigen Arbeiten zeigen die beiden, dass die gängige Inter­pretation der klassischen Physik auf zusätzlichen impliziten Annahmen basiert. Wenn wir beispielsweise die Länge eines Tisches mithilfe eines Maßstabs messen, erhalten wir einen Wert mit endlicher Genauigkeit, also mit einer endlichen Anzahl von Nachkomma­stellen. Selbst mithilfe eines genaueren Messgeräts erhalten wir nur weitere Stellen, die jedoch nach wie vor endlich sind. Die klassische Physik geht jedoch davon aus, dass es eine unendliche Anzahl von vorgegebenen Nachkomma­stellen gibt, auch wenn wir diese nicht messen können. Die Länge des Tisches ist somit stets genau bestimmt.

Das Modell lässt sich anhand des Spiels „Bagatelle“ verdeut­lichen, bei dem das Spielbrett symmetrisch mit Steckstiften gefüllt ist. Wenn die kleine Kugel über das Brett rollt und auf einen Steckstift trifft, prallt sie ab und bewegt sich entweder nach rechts oder nach links weiter. Durch die perfekte Kenntnis der Anfangs­bedingungen – also der Geschwindigkeit und der Position –, unter denen die Kugel auf das Spielbrett kommt, ließe sich in einer deter­ministischen Welt eindeutig bestimmen, welchen Weg die Kugel zwischen den Steckstiften einschlagen wird. Wenn die Kugel in wiederholten Versuchen nicht denselben Weg einschlägt, liegt das – so die Annahme in der klassischen Physik – nur daran, dass die Anfangs­bedingungen nicht genau reproduziert werden konnten. Dies könnte beispiels­weise daran liegen, dass kein unendlich präzises Messgerät zur Verfügung steht, um die Anfangs­position der Kugel exakt festzulegen, wenn sie auf das Spielbrett rollt.

In ihrer neuen Studie stellen die Autoren nun eine alternative Sichtweise vor: Nach einer bestimmten Anzahl an Steckstiften ist der weitere Laufweg der Kugel prinzipiell völlig zufällig – und zwar nicht aufgrund der Ein­schränkungen unserer Messgeräte. Bei jedem Aufprall hat die Kugel eine bestimmte Neigung oder Tendenz, nach rechts oder nach links abzuprallen und ihr Laufweg ist nicht a priori bestimmt. Für die ersten paar Male, wenn die Kugel abprallt, lässt sich der Weg der Kugel mit Sicherheit bestimmen, d.h. die Neigung liegt bei hundert Prozent für die eine Seite und bei null Prozent für die andere. Nach einer bestimmten Anzahl von Steckstiften ist der Weg der Kugel jedoch nicht weiter vorbestimmt und die Neigung für den weiteren Laufweg nach einem Aufprall auf weiter entfernte Steckstifte erreicht allmählich fünfzig Prozent für die rechte und fünfzig Prozent für die linke Seite. Legt man dieses Konzept auf das Beispiel des Tisches um, so wird jede Stelle der gemessenen Länge des Tisches durch einen Prozess bestimmt, der sich mit dem ständigen Abprallen der Kugel nach links oder nach rechts vergleichen lässt. Demnach ist die Länge des Tisches nach einer bestimmten Anzahl von Stellen nicht mehr bestimmt.

Das neue Modell der Wissen­schafter verzichtet darauf, reellen Zahlen – Zahlen mit unendlich vielen vorgegebenen Nachkomma­stellen – die bisher übliche physikalische Bedeutung zuzu­schreiben. Es legt vielmehr nahe, dass der Wert der Stellen nach einer bestimmten Anzahl an Stellen absolut zufällig wird und dass nur die Neigung, einen bestimmten Wert anzunehmen, klar definiert ist. Dies liefert neue Erkennt­nisse über den Zusammenhang zwischen klassischer Physik und Quanten­physik. Wann, wie und unter welchen Umständen eine unbestimmte Menge einen bestimmten Wert annimmt, ist eine berüchtigte Frage in den Grundlagen der Quantenphysik, auch bekannt als das quantenmechanische Messproblem. Es besagt, dass es in der Quantenwelt unmöglich ist, die Realität zu beobachten, ohne sie zu verändern. Der Messwert eines Quanten­objekts steht somit erst fest, wenn er bei einer Beobachtung tatsächlich gemessen wird. Die Studie von Del Santo und Gisin weist jedoch darauf hin, dass dieselbe Annahme möglicher­weise schon immer auch in den Regeln der klassischen Physik verborgen war.

U. Wien / JOL

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