06.07.2016

Quanten mit Erinnerungsvermögen

Vielteilchen-Lokalisation in zweidimensionalem Quantensystem nachgewiesen.

Wenn gewöhnliche Vielteilchensysteme ins Gleichgewicht kommen, verlieren sie sämtliche Informationen über ihren ursprünglichen Zustand. Diese Erfahrung machen wir jeden Morgen, wenn wir uns Milch in den Kaffee gießen. Milch und Kaffee mischen sich so perfekt, dass es sich nicht mehr sagen lässt, wie genau diese beiden Flüssigkeiten zusammen gekommen sind. Das gleiche Verhalten legen auch fast alle Quanten­systeme an den Tag. Allerdings wurde vor kurzem ein neues Phänomen vorher gesagt, die sogenannte „Vielteilchen-Lokalisation“. Sie erlaubt es gut isolierten Quanten­systemen, ihren anfänglichen Zustand auf ewig im Gedächtnis zu behalten. Nun hat ein Wissenschaftler­team um Christian Groß und Immanuel Bloch (Direktor am Max-Planck-Institut für Quanten­optik und Lehrstuhl für Quanten­optik an der LMU München) in Zusammenarbeit mit David Huse von der Princeton University starke Hinweise für das Auftreten dieses Phänomens in einem zwei­dimensionalen Quanten­system aus kalten Rubidium­atomen erhalten.

Abb.: Künstlerische Darstellung des Experiments (Bild: Science, AAAS)

Die Wissenschaftler beobachteten, dass sich oberhalb eines bestimmten Grads an Unordnung, die dem System zu Anfang aufgeprägt wurde, ein Gleichgewichts­zustand einstellte, der noch detaillierte mikroskopische Informationen über seine Vergangenheit enthielt. „Wir waren in der Lage, den Übergang von einem thermischen Gleich­gewichts­zustand in eine Vielteilchen-lokalisierte Phase zu verfolgen“, betont Christian Groß. „Das ist die erste derartige Beobachtung in einem Bereich, der mit modernen Simulations­techniken auf klassischen Computern nicht zugänglich ist.“ Das Experiment ist nicht nur von grundsätzlichem Interesse, sondern könnte auch zu neuen Wegen führen, Quanten­information zu speichern.

Motiviert durch die Fragestellung, wie sich miteinander wechselwirkende Teilchen in einem ungeordneten System verhalten, entdeckte der amerikanische Physiker Philip Warren Anderson in den 1950er Jahren ein Phänomen, das heute „Anderson-Lokalisation“ genannt wird. Diese besagt, dass die Unordnung jegliche Bewegung und damit auch jeglichen Transport verhindert, wenn keine Wechsel­wirkung zwischen den Teilchen stattfindet. Doch was geschieht, wenn Unordnung und Wechsel­wirkung zusammen­treffen? Wird es aufgrund der Wechselwirkung doch zu einem Transport von Teilchen kommen – oder wird die Lokalisation auch bei hohen Energien fortbestehen? Bislang gibt es kein theoretisches Modell, das verlässlich vorhersagen könnte, wie sich ein geschlossenes Quanten­system unter diesen Bedingungen entwickelt, wenngleich Theoretiker die Möglichkeit der Lokalisierung erwogen haben.

Um diese Fragen experimentell untersuchen zu können, müssen strenge Anforderungen an die Kontrollier­barkeit und Abschirmung des Systems erfüllt sein. Im neuen Experiment luden die Forscher extrem kalte Rubidium­atome in ein optisches Gitter, eine Aneinander­reihung mikroskopisch kleiner Licht­fallen, die durch Interferenz mehrerer Laser­strahlen entsteht. Auf das atomare Ensemble projizierten sie ein zufällig mit einem Computer erzeugtes Licht­muster. Dies bewirkt, dass die Tiefe der kleinen Licht­fallen nun von Gitterplatz zu Gitterplatz variiert, was einer gewissen Unordnung des Systems entspricht. Die Gruppe von Immanuel Bloch hat ihre technischen Methoden mittlerweile so weit entwickelt, dass sie die Position der Atome und die Wechsel­wirkung zwischen ihnen fast nach Belieben steuern kann. Mit einem hochauflösenden Mikroskop lässt sich der Ort jedes Atoms über das von ihm ausgesandte Fluoreszenz­licht mit höchster Genauigkeit bestimmen. Außerdem kann man die anfängliche Dichte­verteilung genau einstellen und ihre weitere Entwicklung für verschiedene Zeit­intervalle messen.

Mit diesen Werkzeugen lässt sich das nicht-thermische Verhalten des atomaren Systems mit einer konzeptionell recht einfachen Methode testen. Jeder thermische Gleich­gewichts­zustand in einem geschlossenen System spiegelt die Symmetrie seines Behälters wider. So bedeckt Wasser, das in eine runde Schüssel geschüttet wird, unmittelbar den ganzen Boden des Gefäßes. Ganz analog erzeugten die Wissenschaftler in dem atomaren Ensemble zu Beginn eine „Dichtestufe“, indem sie die Atome in der einen Hälfte des optischen Gitters mit Laserstrahlung „wegpusten“. Dann beobachteten sie, wie sich die übrig gebliebenen Teilchen in der leeren Hälfte ausbreiteten. Solange die durch das Licht­muster aufgeprägte Unordnung relativ klein war, verging die Dichte­stufe schnell, und die anfänglich leere bzw. gefüllte Hälfte gleichen sich immer mehr an. Anders, wenn die aufgeprägte Unordnung größer ist: Dann bleiben Spuren der anfänglichen Unregel­mäßigkeiten bestehen, d.h., das System geht auch nach langen Zeitspannen in keinen thermischen Zustand über. „Wir beobachten, dass dieses nicht-thermische Verhalten oberhalb eines kritischen Wertes für die Unordnung sprung­haft einsetzt“, sagt Christian Groß. „Dieses Fehlen von Thermalisierung ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil es in einem System aus inter­agierenden Teilchen auftritt und sogar bei den hohen Energien, die wir in unserem Experiment testen, bestehen bleibt.“

Die Wissenschaftler deuten diese Beobachtung als den Übergang in eine neue Phase des Systems, die Vielteilchen-Lokalisation. Sie ist auf der einen Seite von grund­legendem Interesse, weil sie sich nicht durch klassische statistische Mechanik beschreiben lässt. Auf der anderen Seite könnte man das Fortbestehen der Information über den Anfangszustand als Quelle für Quanten­informations­technologien nutzen. „Wir sollten dabei hervorheben, dass wir diese Ergebnisse für eine System­größe erzielen, die weit über numerisch zugängliche Skalen hinaus geht“, sagt Jae-yoon Choi, Postdoc am Experiment.

MPQ / DE

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