Raumzeit-Gezeiten interferometrisch bestimmt
Krümmung der Raumzeit erstmals mit Hilfe eines Atom-Interferometers gemessen.
Die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenphysik stehen als Theorien der modernen Physik nebeneinander. Eine gemeinsame Theorie, die die Physik des Größten und die Physik des Kleinsten vereinigen könnte, ist derzeit noch nicht in Sicht. Umso wichtiger sind experimentelle Daten, die die wechselseitigen Grundlagen beider Theoriegebäude überprüfen. Eine Technologie, die sich in den letzten Jahren besonders schnell entwickelt hat und sich hierfür eignet, ist die Atom-Interferometrie. Denn sie ist mittlerweile so präzise, dass sie die Messung fundamentaler Eigenschaften der Raumzeit anhand quantentypischer Phänomene erlaubt.
Abb.: Anhand des Vergleichs zwischen zwei nahen Atom-Interferometern gelang den Forschern die Bestimmung der Krümmung der Raumzeit. (Bild: C. Cain / APS)
Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Mark Kasevich von der Universität Stanford hat genau dies nun umgesetzt. Mit ihrem Atom-Interferometer konnten die Forscher die Krümmung der Raumzeit messen, also die „Gezeitenkräfte“ der Gravitation. Dies ist nicht nur messtechnisch sehr anspruchsvoll, sondern auch konzeptionell interessant. Einer Gruppe italienischer Physiker war es bereits 2015 gelungen, die Gravitationskonstante mit Hilfe eines Atom-Interferometers extrem genau zu bestimmen. Das neue Experiment der Wissenschaftler aus Stanford hatte nun die nächsthöhere Ableitung des Gravitationspotenzials im Visier.
Das Gravitationspotenzial selbst ist keine messbare Größe – seine Ableitungen jedoch schon. Die erste Ableitung entspricht der Beschleunigung im freien Fall. Sie hängt allerdings auch vom Bewegungszustand des Beobachters ab. Denn Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie ist gerade die Äquivalenz von Schwerkraft und Beschleunigung und damit auch die Äquivalenz von träger und schwerer Masse. Die zweite Ableitung des Gravitationspotenzials hingegen ist ein Maß für die Krümmung der Raumzeit und hängt nicht vom Bewegungszustand des Beobachters ab. Mit ihren Messungen haben die Forscher also konzeptionell gesehen die erste rein-gravitative Quantenmessung der Schwerkraft durchgeführt.
Hierzu nutzten die Wissenschaftler ein Atom-Interferometer, das sie mit ultrakalten Rubidiumatomen betrieben, die eine Temperatur von nur noch 50 Nanokelvin aufwiesen. Um den schwachen Effekt der Raumzeitkrümmung nachweisen zu können, eliminierten die Forscher zunächst den Einfluss der normalen Gravitationsbeschleunigung, indem sie zwei nur dreißig Zentimeter entfernte Interferometer miteinander verglichen und nur die Differenz der Interferenzmuster betrachteten. Dadurch konnten sie nicht nur die Erdanziehung, sondern auch Schwingungen der Messapparate ausgleichen.
Die Forscher präparierten je rund eine Million Rubidium-Atome, die sie dann in einer zehn Meter hohen Fontäne nach oben strömen ließen, wobei sich die Atome 2,8 Sekunden lang im freien Fall befanden. Zunächst fokussierten die Forscher den Strahl mit einer Dipol-Linse. Dann führten sie mit starken Laserpulsen eine räumliche Trennung der Wellenfunktionen der fallenden Atome herbei. Dadurch „spürte“ jedes Rubidium-Atom zugleich den Einfluss der Gravitation an verschiedenen Stellen. Dank des hohen Impulsübertrags von rund 100 Photonen aus je einigen Dutzend Laserpulsen spalteten sich die Wellenfunktionen der einzelnen Rubidium-Atome auf eine Breite von rund dreißig Zentimetern auf – ein enorm starker Effekt mit schweren Atomen.
Die Krümmung der Raumzeit führten die Forscher durch schwere Bleiklötze herbei, die sie neben einem der Interferometer platzierten. Der Effekt der insgesamt 84 Kilogramm schweren Blöcke machte sich dank der hohen Präzision ihres Interferometers bemerkbar – allerdings nur bei einem der beiden Interferometer. Das andere war mit einem Abstand von etwa dreißig Zentimetern weit genug entfernt, dass dieser Effekt es kaum noch beeinflussen konnte. Insgesamt erreichten die Wissenschaftler eine Präzision von 0,6 nm/s2 bei der Bestimmung der Beschleunigungsdifferenz im Mess- und im Referenz-Interferometer.
Diese Messungen waren nur möglich aufgrund der zahlreichen Verbesserungen, die Atom-Interferometer in den letzten Jahren erfahren haben und zu denen auch die Arbeitsgruppe der Forscher aus Stanford beigetragen hat. Mit weiteren Entwicklungen könnten in den kommenden Jahren ganz neue Gebiete in die Reichweite der Atom-Interferometrie gelangen. So ist die erreichte Phasenstabilität bereits jetzt sehr hoch. Mit einem ähnlichen Aufbau halten die Wissenschaftler nicht nur eine genauere Bestimmung der Gravitationskonstante, sondern auch die Messung des gravitativen Aharonov-Bohm-Effekts für möglich. Andere Möglichkeiten bestehen in Tests der Feinstrukturkonstante, im Nachweis von Gravitationswellen im ansonsten nur schwer zugänglichen Frequenzbereich von knapp einem Hertz oder sogar in der Suche nach möglichen ultraleichten Teilchen der dunklen Materie, wie verschiedene Modellen sie vorhersagen.
Dirk Eidemüller
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