Regelmäßig und doch nicht
Neue Klasse von Quasikristallen aus Oxiden entdeckt.
Lange Zeit hatten Forscher geglaubt, Kristalle wären immer regelmäßig und in einer periodisch wiederkehrenden Struktur aufgebaut. Erst die 2011 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichneten Arbeiten des israelischen Physikers Dan Shechtman zeigten, es gibt auch andere, vorher unvorstellbare Kristallformen, die zum Beispiel fünfeckige Kristallflächen aufweisen. Diese als Quasikristalle bezeichneten Kristallstrukturen haben ein geordnetes Gitter, das sich aber nirgends wiederholt: aperiodische oder Quasikristalle. Forscher der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) um den Physiker Wolf Widdra konnten nun aus Oxiden einen Quasikristall aufbauen. Solche Strukturen waren bisher nur bei wenigen Metalllegierungen und sehr weichen Kolloidsystemen zu finden.
Abb.: Den Strukturen der Quasikristalle auf der Spur: Doktorand René Hammer und Wolf Widdra (v.l.) (Bild: U. Halle / M. Glöckner)
Das Widdras Team hat damit für die Forschung neue Türen aufgestoßen. Denn die Wissenschaftler konnten erstmals quasikristalline Strukturen bei Oxiden nachweisen. Das gelang ihnen in dünnen Schichten, die sie auf einer Metallunterlage präparierten. Die gefundene quasikristalline Oxidschicht ist nur wenige Atomdurchmesser dick, bildet sich aber perfekt aus, wie Elektronenbeugung und atomar aufgelöste Mikroskopie zeigen.
Seit der Entdeckung des Graphens sind Materialien mit einem zweidimensionalen Charakter ein sich weltweit stark entwickelndes Forschungsgebiet in den modernen Materialwissenschaften. Die Entdeckung der halleschen Wissenschaftler fügt dieser Entwicklung ein weiteres wichtiges Kapitel hinzu: „Es ist die zweidimensionale Grenzfläche zwischen Oxid und Metall, der Wettstreit zwischen unterschiedlichen Materialien und Symmetrien an dieser Grenzfläche, der diese quasikristallinen Oberflächen erst entstehen lässt. Ohne diesen Wettstreit würden sich nur ganz normale und bekannte kubische Oxidkristalle ausbilden“, erläutert Widdra, der auch Fellow am MPI für Mikrostrukturphysik in Halle ist.
Die Wissenschaftler beobachteten zunächst, dass Bariumtitanat, das normalerweise eine Perowskit-Struktur ausbildet, bei Abscheidung auf einem Platinkristall unter hohen Temperaturen ein ungewöhnliches Elektronenbeugungsmuster zeigte – was auf eine aperiodische Anordnung der Atome hindeutete. Aufklärung brachte die direkte Abbildung des atomaren Aufbaus mit Hilfe der Rastertunnelmikroskopie durch Stefan Förster, einen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe. Er bestätigte das tatsächliche Vorliegen einer aperiodischen Struktur und konnte zeigen, dass die dreieckigen und quadratischen atomaren Strukturen ein sich nicht wiederholendes quasikristallines Fliesenmuster bilden.
Die im Muster auftretende Selbstähnlichkeit der Struktur ist dabei ein Charakteristikum des Quasikristalls: Quadrate und Dreiecke bilden um den magischen Faktor (2 + √3) größere Strukturen, die wiederum in quadratischen und dreieckigen Anordnungen vorliegen und mit ähnlicher Bauvorschrift noch größere Strukturen bilden, die selbst wieder Ausgangspunkt für Quadrate und Dreiecke sind.
Solch eine vollständige Belegung einer Fläche mit unterschiedlichen „Fliesen“ gilt seit Jahrhunderten als eine künstlerisch und mathematisch anspruchsvolle Aufgabe, wie sie schon in Johannes Keplers 1619 veröffentlichtem Werk „Harmonices Mundi“ nachzulesen ist. Fliesenmuster mit sich nicht wiederholenden, also aperiodischen, Strukturen finden sich schon in der islamischen Architektur des Mittelalters, wie dem Darb-i-Imam-Schrein aus Isfahan im Iran. Ihre Bauvorschrift wurde jedoch erst 1974 durch den britischen Mathematiker Roger Penrose gefunden.
Neben ihrem ästhetischen Reiz besitzt die gefundene quasikristalline Oxidschicht aber vor allem ein großes Potenzial für technische Anwendungen. Denn solche Oxidschichten können viele ungewöhnliche Eigenschaften der Quasikristalle - sehr niedrige Reibung, geringe Haftung an der Oberfläche und niedrige Wärmeleitung – nun mit der Vielzahl der Eigenschaften der Perowskit-Oxide vereinen.
Bereits bekannte Eigenschaften von metallischen Quasikristallen finden auch im Alltag Anwendung: So sind solche antihaftende Beschichtungen für Bratpfannen im Gegensatz zu Teflon gleichzeitig kratzfest. Quasikristall-beschichtete Klingen in Rasierapparaten sind härter und länger funktionsfähig. Die nun entdeckten Oxid-basierten Quasikristallschichten können chemisch stabiler als die bisherigen Metalllegierungen sein und Werkstoffe, wie etwa Turbinenschaufeln, widerstandsfähiger machen. Neue, ultradünne und chemisch stabile Oberflächenbeschichtungen ermöglichen zudem einen breiten Einsatz für biokompatible Werkstoffe, zum Beispiel im Bereich der modernen Implantationsmedizin.
MLU / DE