08.06.2018

Reise an den Rand der Nuklidkarte

Messungen an Chrom-Isotopen weisen auf Rolle der Deformation von Atomkernen hin.

Wissenschaftler des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kern­physik (MPIK) und des Instituts für Physik der Universität Greifs­wald haben in Kollaboration mit Forschern von mehreren weiteren inter­nationalen Instituten mit dem Massen­spektrometer ISOLTRAP am CERN die Massen von sechs exotischen Chrom­isotopen der Massenzahl 58 bis 63 mit hoher Genauigkeit bestimmt. Zusammen mit neuen theoretischen Rechnungen liefern die Unter­suchungen wichtige Einsichten zum Verständnis des Aufbaus der Atom­kerne sowie zur Entstehung der chemischen Elemente.

Abb.: Zwei-Neutronen-Separations­zenergie für neutronen­zreiche Chrom-Isotope mit schematischer Extra­zpolation in den unbekannten Bereich vor (hellblau) und nach (hellorange) den neuen Ergebnissen. (Bild: MPIK)

Die Eigenschaften eines bestimmten Atom­kerns (Nuklid) sind haupt­sächlich durch die Anzahl seiner Nukleonen und seine Masse bestimmt. Auf der Nuklid­karte sind alle bekannten Nuklide als Tabelle mit nach oben zunehmender Protonen­zahl und nach rechts zunehmender Neutronen­zahl grafisch dargestellt. Ganz links unten findet sich das einzelne Proton als einfachster Kern des Wasserstoff­atoms. Rechts oben die schwersten, künstlich erzeugten Nuklide. Nur ein kleiner Teil der Nuklide ist stabil (schwarz); diese befinden sich im „Tal der Stabilität“, das für schwerere Kerne einen zunehmenden Neutronen­überschuss aufweist. Alle anderen unterliegen als Radio­nuklide verschiedenen radio­aktiven Zerfällen (farbig hervorgehoben). Derzeit kennt man insgesamt rund 3300 Nuklide. Davon sind 253 stabil, gut 80 Radio­nuklide kommen auf der Erde natürlich vor, alle anderen wurden künstlich erzeugt.

Allerdings ist nicht genau bekannt, wie viele Nuklide es tatsächlich gibt. Neben der Radio­aktivität gibt es aber fundamentale Grenzen der Stabilität, an denen ein weiteres zusätzliches Proton bzw. Neutron nicht mehr gebunden würde. Die Gesamtzahl der bisher größten­teils unerforschten Nuklide wird auf ungefähr 4000 geschätzt. Sie mögen exotisch wirken, sind aber z.B. für die Synthese schwererer Elemente jenseits von Eisen von Bedeutung. Das Stabilitäts­tal der Nuklid­karte ist in der Gegend um Eisen am tiefsten, d.h. nur bis hier kann im Zentrum von Sternen durch Kern­fusion Energie gewonnen werden. Elemente wie Gold oder Blei entstehen beim Ver­schmelzen von Neutronen­sternen sowie in Supernovae. Die dabei beteiligten radio­aktiven Zerfalls­pfade folgen wie Schach­figuren festen „Zug­regeln“ und es ist entscheidend, welche Flächen auf dem Spiel­feld der Nuklid­karte zur Verfügung stehen.

Da die paarweise Korrelation von zwei Protonen oder Neutronen im Atomkern einen wichtigen Beitrag liefert, wird als Maß für die Bindungs­stärke auch die Zwei-Neutronen-Separations­energie betrachtet, d.h. die Energie, die aufgebracht werden muss, um zwei Neutronen aus einem Kern zu entfernen. Mit zunehmender Entfernung zum Stabilitäts­tal wird diese immer kleiner, bis beim Wert Null die Grenze der Stabilität erreicht ist. Diese extrem neutronen­reichen Nuklide sind aber so instabil und zugleich schwierig herzu­stellen, dass z.B. für Vorher­sagen der Synthese schwerer Elemente die Separations­energien von den bekannten Mess­werten mit Unter­stützung von theoretischen Modellen extra­poliert werden müssen. Hinzu kommt, dass die Separations­energie nicht gleich­mäßig fällt, sondern bei bestimmten „magischen“ Nukleonen­zahlen Sprünge aufweist. Entsprechend heraus­fordernd wird dann die Extra­polation auf die Null­linie.

Bei den neuen Messungen wurde die Genauigkeit gegenüber früheren Experimenten um bis zu einem Faktor 300 verbessert. Auch mussten die Forscher Neu­land betreten, um diese Nuklide überhaupt zu erzeugen und ihre Masse innerhalb ihrer kurzen Lebens­dauer von teilweise nur wenigen Zehntel­sekunden präzise zu bestimmen. Über Einsteins Gleichung zur Äquivalenz von Masse und Energie lässt sich aus der Masse die Bindungs­energie und damit die Zwei-Neutronen-Separationsenergie bestimmen. Der in früheren Daten nur angedeutete und zudem unklare Trend eines deutlich geringeren Abfalls der Separations­energie zu höheren Neutronen­zahlen konnte bestätigt werden.

Dieses Verhalten wird auch durch phänomenologische Modelle, die eine Deformation des Atom­kerns begünstigen, sehr gut wieder­gegeben. Neue Viel­teilchen­rechnungen, die „ab initio“ ohne phänomenologische Näherungen auskommen und dabei nur an leichte Kerne angepasst wurden, sagen die Mess­daten bis Cr-59 ebenfalls sehr gut voraus, ergeben aber für noch neutronen­reichere Chrom-Isotope eine zu schwache Bindung. Für die Weiter­entwicklung dieser mikro­skopischen Rechnungen ist das Zusammen­spiel mit den neuen Mess­daten sehr wichtig: Es gibt klare Hinweise, dass die Deformation des Kerns hier noch besser berücksichtigt werden muss.

Die neuen Resultate sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg in unbekanntes Terrain der Nuklid­karte, dem weitere folgen werden. Einen wesentlichen Beitrag wird das neue inter­nationale Beschleuniger­zentrum FAIR in Darmstadt leisten, welches eine Produktion von mehreren 100 neuen Isotopen verspricht. Erste Präzisions­massen­messungen an diesen Isotopen sind für 2025 vorgesehen.

MPIK / DE

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