Richtungsabhängige Reibung in Biomolekülen entdeckt
Wichtiges Puzzleteil für das Verständnis von Reibung in technischen Anwendungen und biologischen Komplexen.
Proteine bilden einen Großteil der mikroskopischen Maschinerie von Zellen und verrichten während ihrer Funktionszyklen Arbeit. Entsprechend folgen sie den Gesetzen der Thermodynamik, weisen eine Energieumwandlungseffizienz auf und verlieren während ihrer Zyklen Energie – was aus makroskopischer Sicht einer scheinbaren Reibung entspricht. Auf der mikroskopischen Skala sind bekannte Reibungsquellen die innere Reibung von Proteinen, die durch die Anregung innerer Schwingungen entsteht, und die Lösungsmittelreibung durch die Beschleunigung von sie umgebenden Lösungsmittelmolekülen. Diese führen zur Erwärmung des Proteins beziehungsweise des Lösungsmittels.
In Einzelmolekülexperimenten und Simulationen an einem Modell-Protein-Liganden-Komplex fand ein interdisziplinäres Forschungsteam der Uni Freiburg und des MPI für Biophysik in Frankfurt jetzt eine neue, richtungsabhängige Reibungsart in Proteinen. „Bisher hatte noch niemand beobachtet, dass Reibung in Biomolekülen eine Richtungsabhängigkeit hat“, erklärt Steffen Wolf von der Uni Freiburg.
Für ihre Einzelmolekül-Experimente verwendeten sie eine neuartige Methode, die stereographische Einzelmolekülkraftspektroskopie, die auf Rasterkraftmikroskopie basiert. Diese Technik erlaubt es, Liganden aus einem an eine Oberfläche gebundenen Protein nicht nur entlang einer einzigen, sondern entlang aller drei kartesischen Koordinaten herauszulösen. Dabei fanden die Wissenschaftler heraus, dass die Reibung bei der Liganden-Dissoziation überraschenderweise mit dem angelegten Winkel zunimmt. Anschließend bildeten die Forscher das Experiment in Computersimulationen nach. Dabei stellten sie fest, dass die Arbeit beim Dissoziieren eines Liganden von seiner Bindungsstelle von der genauen Richtung abhängt, in die die Zugkraft ausgeübt wird.
Die Forscher fügten die Ergebnisse aus Experiment und Simulationen zusammen und erkannten, dass die Ursache für die winkelabhängige Reibung in der undefinierbaren und zufälligen Orientierung der an die Oberfläche gebundenen Proteine entlang ihrer Rotationsachse im Experiment liegt. Das Team wiederholte die Einzelmolekül-Zugexperimente, um statistisch aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen. Dabei bindet der Ligand bei jeder Messung an ein anderes Protein. Somit wurde bei jeder Messung ein Ligand unter demselben Winkel zur Oberfläche herausgezogen, aber über verschiedene Bereiche des zufällig orientierten Proteins. Da diese Orientierung – im Versuchsaufbau wie in der realen Welt – nicht definiert werden kann und jede Messung somit nicht exakt reversibel wiederholbar ist, werden jedes Mal unterschiedliche Energiemengen in das Biomolekül eingetragen. Der nicht reversible Teil dieser Energiemenge geht als Wärme an das System verloren. Der entsprechende Effekt wirkt wie eine Reibungsquelle, die die Forscher als anisotrope Reibung bezeichnen.
„Wir gehen davon aus, dass diese bisher unbekannte und fundamentale Art der Reibung in jeder Bioassemblierung auftritt, bei der eine Zufälligkeit in der Proteinausrichtung zusammen mit der Richtungsabhängigkeit der angewendeten Kraft vorliegt“, sagt Biophysiker Bizan Balzer von der Uni Freiburg. Das sei zum Beispiel in biomolekularen Motoren oder in kraftsensitiven Membranproteinen der Fall, aber auch bei Prozessen wie dem Blutfluss, wo Kräfte auf zufällig orientierte Proteine ausgeübt werden. „Anisotrope Reibung ist damit ein weiteres wichtiges Puzzleteil für das Verständnis von Reibung sowohl in technischen Anwendungen als auch in biologischen Komplexen im Allgemeinen.“
U. Freiburg / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
W. Cai et al.: Anisotropic Friction in a Ligand-Protein Complex, Nano Lett., online 22. März 2023; DOI: 10.1021/acs.nanolett.2c04632 - Institut für physikalische Chemie, Universität Freiburg
- Max-Planck-Institut für Biophysik, Frankfurt/Main