Scheibengalaxien kratzen am Standardmodell
Anzahl an Scheibengalaxien ist größer als vom kosmologischen Standardmodell vorhergesagt.
Das Standardmodell der Kosmologie beschreibt, wie das Weltall entstanden ist. Forscher der Universität Bonn haben nun auf seiner Basis die Entwicklung der Galaxien untersucht. Dabei sind sie auf erhebliche Abweichungen zu tatsächlichen Beobachtungen gestoßen. An der Studie waren auch die Universität von St. Andrews in Schottland sowie die Karls-Universität in Tschechien beteiligt.
Die meisten Galaxien, die von der Erde aus sichtbar sind, ähneln einer flachen Scheibe mit verdicktem Zentrum. Sie gleichen also in etwa dem Sportgerät eines Diskuswerfers. Laut Standardmodell der Kosmologie sollten solche Scheiben aber eher selten entstehen. Denn ihm zufolge ist jede Galaxie von einer Art Heiligenschein aus dunkler Materie umgeben. Dieser Halo ist unsichtbar, übt jedoch aufgrund seiner Masse eine starke Anziehungskraft auf Galaxien in der Umgebung aus. „Daher kommt es immer wieder dazu, dass Galaxien miteinander verschmelzen“, erklärt Pavel Kroupa vom Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik der Universität Bonn.
Dieser Crash bewirke zweierlei, erläutert der Physiker: „Zum Einen durchdringen sich die Galaxien dabei, wodurch die Scheiben-Form zerstört wird. Zum Zweiten verringert sich durch ihn der Drehimpuls der durch die Fusion entstandenen neuen Galaxie.“ Vereinfacht gesagt, nimmt dadurch ihre Rotationsgeschwindigkeit stark ab. Die Drehbewegung sorgt normalerweise dafür, dass sich durch die dabei wirkenden Fliehkräfte eine neue Scheibe formiert. Ist der Drehimpuls dazu zu schwach, passiert das jedoch nur sehr langsam oder unterbleibt ganz.
In der aktuellen Studie hat Kroupas Doktorand Moritz Haslbauer eine internationale Forschungsgruppe geleitet, um den Werdegang des Universums anhand der aktuellsten Superrechner-Simulationen zu untersuchen. Die Berechnungen basieren auf dem Standardmodell; sie zeigen, welche Galaxien sich bis heute hätten bilden müssen, sollte diese Theorie korrekt sein. Ihre Ergebnisse verglichen die Forscher dann mit den momentan wohl genauesten Beobachtungsdaten des von der Erde sichtbaren Universums.
„Dabei sind wir auf eine erhebliche Diskrepanz zwischen Vorhersage und Realität gestoßen“, sagt Haslbauer: „Es gibt augenscheinlich deutlich mehr flache Scheibengalaxien, als sich durch die Theorie erklären lässt.“ Allerdings ist die Auflösung von Simulationen auch auf heutigen Supercomputern begrenzt. Es kann daher sein, dass die Zahl der Scheibengalaxien, die im kosmologischen Standardmodell entstehen würden, unterschätzt wurde. „Selbst wenn wir diesen Effekt berücksichtigen, bleibt aber ein gravierender Unterschied zwischen Theorie und Beobachtung“, betont Haslbauer.
Anders sieht es bei einer Alternative zum Standardmodell aus, die ohne Dunkle Materie auskommt. Nach der MOND-Theorie („Theorie der MilgrOmscheN Dynamik) wachsen Galaxien nicht, indem sie miteinander verschmelzen. Stattdessen entstehen sie aus rotierenden Gaswolken, die sich mehr und mehr verdichten. Auch in einem MOND-Universum werden Galaxien immer größer, indem sie Gas aus der Umgebung aufnehmen. Fusionen ausgewachsener Galaxien wie im Standardmodell sind aber selten. „Unsere Bonn-Prag-Forschungsgruppe hat die weltweit einzigartige Fähigkeit aufgebaut, diese Alternative ebenfalls durchzurechnen“, sagt Kroupa, der auch Mitglied in den Transdisziplinären Forschungsbereichen „Modelling“ und „Matter“ der Universität Bonn ist. „Die Vorhersagen von MOND entsprechen dem, was wir tatsächlich sehen.“
Allerdings sind die genauen Mechanismen des Galaxien-Wachstums auch bei MOND noch nicht vollständig verstanden. Zudem haben in MOND die Newtonschen Gravitationsgesetze unter bestimmten Umständen keine Gültigkeit, sondern müssen abgeändert werden. Das hätte weitreichende Konsequenzen auch für andere Bereiche der Physik. „Dennoch löst die MOND-Theorie alle bekannten extragalaktisch-kosmologischen Probleme“, sagt Indranil Banik, der maßgeblich an diesen Untersuchungen beteiligt war. „Unsere Studie belegt, dass junge Physikerinnen und Physiker auch heute noch die Chance haben, bedeutende Beiträge zur fundamentalen Physik zu leisten“, ergänzt Kroupa.
U. Bonn / DE