Spintronik: Germanium-Tellurid zeigt ungewöhnliches Verhalten
Relaxation nach thermischer Anregung verläuft anders als bei herkömmlichen Halbmetallen.
Aufgrund seines gigantischen Rashba-Effekts gilt Germaniumtellurid als guter Kandidat für den Einsatz in spintronischen Bauelementen. Nun hat ein Team am HZB ein weiteres faszinierendes Phänomen in GeTe entdeckt. Dafür untersuchten die Forscher die elektronische Reaktion auf thermische Anregung der Proben. Überraschenderweise verlief die anschließende Relaxation ganz anders als bei herkömmlichen Halbmetallen. Durch die gezielte Steuerung von Details der elektronischen Struktur könnten in dieser Materialklasse neue Funktionalitäten erschlossen werden.
In den letzten Jahrzehnten hat die Komplexität der auf Silizium basierenden Technologien exponentiell zugenommen. Mit zunehmender Miniaturisierung werden unerwünschte Quanteneffekte und Wärmeverluste zu einem immer größeren Hindernis. Weitere Fortschritte erfordern neue Materialien, die Quanteneffekte nutzen, anstatt sie zu vermeiden. Spintronische Bauelemente, die die Spins der Elektronen und nicht deren Ladung nutzen, versprechen energieeffizientere Bauelemente mit deutlich verbesserten Schaltzeiten und völlig neuen Funktionen.
Kandidaten für spintronische Bauelemente sind Halbleitermaterialien, bei denen die Spins mit der Orbitalbewegung der Elektronen gekoppelt sind. Dieser Rashba-Effekt tritt in einer Reihe von nichtmagnetischen Halbleitern und halbmetallischen Verbindungen auf und ermöglicht es unter anderem, die Spins im Material durch ein elektrisches Feld zu manipulieren. Germaniumtellurid zeigt einen der größten Rashba-Effekte auf, die in Halbleitern beobachtet wurden.
Bislang wurde GeTe jedoch nur im thermischen Gleichgewicht untersucht. Jetzt hat ein Team um Jaime-Sánchez-Barriga vom HZB an BESSY II erstmals gezielt auf einen Nicht-Gleichgewichtszustand in GeTe-Proben zugegriffen und detailliert untersucht, wie sich das Gleichgewicht in dem Material binnen Billionstelsekunden wiederherstellt. Dabei stießen die Physiker auf ein neues und unerwartetes Phänomen.
Zunächst wurde die Probe mit einem Infrarotpuls angeregt und dann mit hoher Zeitauflösung mittels winkelaufgelöster Photoemissionsspektroskopie gemessen. „Zum ersten Mal konnten wir alle Phasen der Anregung, Thermalisierung und Relaxation auf ultrakurzen Zeitskalen beobachten und charakterisieren", sagt Sánchez-Barriga. Das wichtigste Ergebnis: Die Daten zeigen, dass das thermische Gleichgewicht zwischen dem Elektronensystem und dem Kristallgitter auf höchst unkonventionelle und kontraintuitive Weise wiederhergestellt wird.
In einfachen metallischen Systemen wird das thermische Gleichgewicht in erster Linie durch die Wechselwirkung zwischen Elektronen untereinander und zwischen Elektronen und Phononen hergestellt. Dieser Prozess verlangsamt sich mit sinkenden Temperaturen immer mehr. Bei Germaniumtellurid beobachteten die Physiker jedoch ein entgegengesetztes Verhalten: Je niedriger die Gittertemperatur der Probe ist, desto schneller stellt sich das thermische Gleichgewicht nach der Anregung mit dem Wärmeimpuls ein. „Das war sehr überraschend“, so Sánchez-Barriga.
Mit theoretischen Berechnungen im Rahmen des Boltzmann-Ansatzes konnten die Forscher die zugrunde liegenden mikroskopischen Prozesse interpretieren und drei verschiedene Thermalisierungsprozesse unterscheiden: Wechselwirkungen zwischen Elektronen innerhalb desselben Bandes, in verschiedenen Bändern und Elektronen mit Phononen.
Es scheint, dass die Wechselwirkung zwischen Elektronen die Dynamik dominiert und mit abnehmender Gittertemperatur deutlich schneller wird. „Das kann durch den Einfluss der Rashba-Aufspaltung auf die Stärke der fundamentalen elektronischen Wechselwirkungen erklärt werden. Dieses Verhalten ist auf alle Rashba-Halbleiter anwendbar“, sagt Sánchez-Barriga. „Die vorliegenden Ergebnisse sind wichtig für zukünftige Anwendungen von Rashba-Halbleitern und deren Anregungen in der ultraschnellen Spintronik.“
HZB / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
O. J. Clark et al.: Ultrafast Thermalization Pathways of Excited Bulk and Surface States in the Ferroelectric Rashba Semiconductor GeTe, Adv. Mat., online 6. April 2022; DOI: 10.1002/adma.202200323 - Abt. Spin und Topologie in Quantenmaterialien, Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie GmbH